Mein Wahlkampf (German Edition)
sein eigenes Tätigkeitsgebiet haben, das den Besonderheiten der Jugend entspricht.› Das hat der Große Vorsitzende Mao bereits 1953 beim Empfang für das Präsidium des II. Landeskongresses des Jugendverbandes erklärt. Und wie ich gehört habe, setzen sogar die Piraten auf eine Jugendorganisation, weil sie sich auch inhaltlich verjüngen wollen.»
«Aber wir haben doch auch schon eine», unterbrach ihn der Landesvorsitzende. «Find ich ja merkwürdig, dass du das nicht weißt.»
Damit hatte der Landesvorsitzende furchtbar recht. Tatsächlich besitzt meine Partei «Die PARTEI» auch eine eigene Jugendorganisation: die Hintner-Jugend. Warum wusste der Politkommissar nicht davon? Benannt nach dem Generalsekretär der PARTEI, Tom Hintner, hat sich dieser «freiwillige Zusammenschluss junger und junggebliebener Menschen» als «unabhängiger Jugend- und Erziehungsverband» gegründet, wie der Bundessatzung zu entnehmen ist. Politisch ist die Hintner-Jugend völlig unabhängig, aber man kann den lieben Kindern ja nicht verbieten, Ideale zu haben. Und die haben sie: «Ideale der Hintner-Jugend sind Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative. Die Hintner-Jugend ist daher um Zusammenarbeit mit der PARTEI (Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative) bemüht.» Als echte Jugendorganisation hat die Hintner-Jugend natürlich auch ein geiles Logo und einen strammen Gruß, was in der Satzung unter römisch eins festgehalten wird: «Unser Zeichen ist die Rote Kaulquappe. Unser Gruß ist ‹Hi Hintner›.» Und so wird diese beneidenswert gut organisierte Jugend in Zeltlagern und auf Gewaltmärschen bei Gesang und Bier behutsam an die Sinnlosigkeit des Daseins herangeführt. Mit ihnen zieht die neue Zeit.
«Natürlich weiß ich, dass es die Hintner-Jugend gibt», verteidigte sich der Politkommissar. «Ich habe sie nur kurzzeitig mit der Piraten-Jugend verwechselt, ich war einfach unkonzentriert. Wir brauchen jedenfalls unbedingt Fotos von Ihnen zusammen mit vielen Kindern», rief er befeuert. «Mit Kindern, die so fröhlich sind, dass einem das Herz aufgeht. Dadurch wirken Sie auch als Mensch echter. Das bringt Ihnen Authentizität im persönlichen Auftritt, es beweist Ihre Zukunftsfähigkeit und sorgt dafür, dass das Wahlvolk emotional angesprochen wird. Kinder und Tiere – da geht nix drüber, Herr Kandidat! Denken Sie nur mal an die vielen Diktatorenfotos! Hitler mit Hund! Ulbricht mit Leninpionieren! Von Stalin gibt’s da ganz tolle Plakate. Ich sag nur ‹Stalin – der beste Freund aller Kinder›, das ist ganz groß!» Der Politkommissar hatte einen roten Kopf, er glühte förmlich vor Begeisterung.
Ich wunderte mich, dass ich nicht schon viel früher auf dieses leicht manipulierbare Wählerpotenzial gekommen war. Schließlich hatte ich reichhaltige Kontakterfahrungen mit Kindern und Jugendlichen. Die ersten Jahre meines Lebens absolvierte ich hauptsächlich im Kreis von Kindern, als Teenager traf ich in Schule und Freizeit besonders Jugendliche, die Ferien verbrachte ich auf Jugendfreizeiten und in Zeltlagern, wo ich schnell die Karriereleiter erklomm. Schon mit sechzehn war ich «GruLei», Gruppenleiter, und hatte eine eigene Jugendgruppe; im «SoLa», im Sommerzeltlager, war ich «LaLei-I», respektive «Lagerleiter Inneres» – ein Titel, den es so nur in Deutschland geben konnte.
Und hatte ich meine politische Karriere nicht sogar als Kind begonnen? Freilich hatte ich das! 1972 – als Willy Brandt im Bundeskanzleramt bestätigt wurde. Ich war sechs Jahre alt und hatte das Wahlrecht. Von meiner Mutter. Sie nahm mich mit in die Wahlkabine, legte mir den Zettel hin, reichte mir den Bleistift, der an einem Stück Paketschnur angebunden war – und ich wählte Willy. Was war die Folge? Willy gewann. Das sensationelle Wahlergebnis nahm mich so mit, dass ich, schon damals gleichermaßen ein Mensch des Wortes und der Tat, mir Füller, Tintenkiller und ein Blatt Papier schnappte und dem Bundeskanzler einen Brief schrieb. Einen Brandtbrief: «Lieber Willy Brandt, ich finde es toll, dass du die Wahl gewonnen hast mit meiner Stimme. Ich bin erst sechs Jahre alt und habe noch gar kein offizielles Wahlrecht. Wenn du nicht willst, dass das rauskommt, schicke mir bitte zehn große Packungen Maoam, dann erzähle ich das nicht weiter. Dein Freund Oliver.»
Der Politkommissar war nicht mehr zu beruhigen. «Jaaa, Willy wählen! Wir
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