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Mein Wahlkampf (German Edition)

Mein Wahlkampf (German Edition)

Titel: Mein Wahlkampf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Maria Schmitt
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Herrschaften! Die letzte Gelegenheit, den Kandidaten Ihrer Wahl zu unterstützen!»
    Sofort bildete sich eine Menschentraube um den Tisch. Auf einmal wollte jeder dabei sein und auch noch unterschreiben. Eine halbe Stunde und fünfzig Unterschriften später verließ ich das Foyer.

    Dass ausgerechnet die ältesten Verkäufertricks am besten funktionierten – das zu erkennen war ein langer Lernprozess. Für mich jedenfalls. Meine allerersten Wahlstände ganz am Beginn meiner politischen Karriere dienten noch nicht der Machtergreifung, sie waren eher Feldforschungseinrichtungen, um herauszufinden, wie der Wähler eigentlich so tickte. Schon als junger, parteiloser Landtagskandidat wollte ich wissen, wie man mit dem Bürger auf ideale Weise ins Gespräch kam.
    In der Fußgängerzone meiner Heimatstadt Heilbronn baute ich einen Wahlstand auf, gemeinsam mit den Punkbandkollegen der UnVreien Wähler. Wir klappten einen Tapeziertisch aus und stellten einen Sonnenschirm daneben – bis heute die unverzichtbare Basis eines jeden Wahlstands. Als Kandidat trug ich einen dunklen Anzug, Hemd und Krawatte, dazu einen langen, schwarzen Ledermantel, was mir ein leicht gestapohaftes Fluidum verlieh. Schließlich wollte ich grundseriös wirken.
    Ein FuZo-Wahlstand war damals in den Achtzigern – abgesehen von Flugblättern und kostspieligen Plakaten, Buttons und Aufklebern – die einzige Möglichkeit, als Einzelbewerber auf sich aufmerksam zu machen. Die örtliche Tageszeitung berichtete nicht, sie war fest in CDU-Hand und schwer damit beschäftigt, den CDU-Kandidaten täglich beim Wahlkampf abzubilden: Blumenübergabe zum neunzigsten Geburtstag, Autohaus-Eröffnung, Fass-Anstich, beim Kreissparkassen-Konzert in der ersten Reihe sitzen, Blumenübergabe zum fünfundachtzigsten Geburtstag – das Leben eines Provinzpolitikers war und ist nervenaufreibend und immer an der Sache orientiert.
    Mein Kampfauftrag hieß daher ganz klar: Aufbau einer Gegenöffentlichkeit. Was heute eine Einzelperson über Facebook und Twitter in Sekunden mitteilen kann, ließ sich in der jungen Kohl-Republik nur mühsam über persönliche Ansprache und Mundpropaganda verbreiten. Und über den Wahlstand.
    Mit unseren begrenzten Mitteln versuchten wir, den Stand so offiziell wie möglich aussehen zu lassen. Da wir kaum eigenes Prospekt- und Infomaterial hatten, legten wir die Broschüren der anderen Parteien aus, die wir kurz zuvor an deren Wahlständen geklaut hatten. So konnte sich jeder was aussuchen. Für die Hungrigen gab es Wiener Würstchen, direkt aus der Dose. Weil unsere Kochplatte kaputt war, waren sie leider kalt. So eiskalt wie der Glühwein, den wir gratis aus Zweiliterflaschen ausschenkten. Wir wollten testen, was sich die Leute alles bieten lassen. Ein Kassettenrecorder spielte herrlich stumpfe Marschmusik, die wir, damit sie nicht ganz so dröge klang, mit doppelter Plattenspielergeschwindigkeit aufgenommen hatten: Prussian March on 45 rpm . Ein handgelettertes Flugblatt verkündete meine Basispositionen, immer schön in Gegensatzpaaren, damit für jeden was dabei war:
     
Dem kleinen Mann muss es wieder besser gehen!
Unternehmerrisiko muss sich wieder lohnen!
     
Die Aufrüstung muss ein Ende haben!
Frieden kann nur durch militärisches Gleichgewicht auf höchster Stufe erreicht werden!
     
Die Renten müssen wieder steigen!
Die Mieten auch!
    Die Wähler kamen an den Stand, stürzten sich auf die kalten Würste, zu denen es weder Brot noch Senf noch Servietten gab, tranken dazu kalten Glühwein, hörten hektisch dudelnde Marschmusik – und beschimpften uns nach Kräften. Aus Prinzip gaben wir immer allen recht. Die Irritation darüber hielt nur kurz an, dann wurde umso heftiger weitergeschimpft.
    CDU-Wähler sahen die SPD-Broschüren und zeterten los, FDP-Anhänger wüteten beim Anblick der Grünen-Prospekte, Rüstungsgegner machten uns fertig, Kriegstreiber verachteten uns, eine Frau schrie: «Die Mieten sollen steigen? Ihr habt sie wohl nicht mehr alle!» Meine Antwort, dass steigende Löhne und Renten das doch ausgleichen würden, machte sie nur noch rasender. Jeder pöbelte frisch drauflos. Diese Bürger hingen nicht an Wahlständen herum, um sich zu informieren, sondern um sich mit vollem Munde mal so richtig auszukotzen. Politik hatte offenbar nicht nur mit der Gestaltung des Gemeinwesens zu tun, sondern vor allem mit Triebabfuhr und Aggressionsabbau.
    Doch es gab auch versöhnliche, ja konstruktive Gespräche. Ein alter Mann, der

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