Mein Wahlkampf (German Edition)
brauchen so was wie die Willy-wählen-Kampagne 1972! Das war das Größte überhaupt! Einundneunzig Prozent Wahlbeteiligung, Künstler und Schriftsteller, die sich für den Kandidaten einsetzten, junge Wähler, weil die SPD das Wahlalter von einundzwanzig auf achtzehn runtergesetzt hatte. Willy war der einzige Kanzler, dessen Vorname als Wahlslogan taugte. Daran müssen wir anknüpfen: Olly wählen!»
Zwei Tage später rief der Inspizient an und meldete triumphierend, dass er mich in einer «Podiumsdiskussion zur OB-Wahl» untergebracht hätte. Die habe eine «hohe Glaubwürdigkeit», denn sie werde vom Frankfurter Stadtschülerrat veranstaltet – in der Europaschule, einer der besten Schulen der Stadt. «Sprechen Sie bloß nicht zu abgehoben», gab er mir noch mit auf den Weg. «Die Schüler finden das bestimmt total geil, wenn Sie ihre Sprache sprechen. Und als Zugabe können Sie ja vielleicht ein bisschen rappen, dann haben Sie die garantiert im Sack», lachte er und legte auf.
Das war eine harte Nuss. Er hatte nämlich recht: Um mit den Jugendlichen erfolgreich zu kommunizieren, musste ich ihre Sprache sprechen. Doch ich hatte mich seit Jahren nicht mehr mit Jugendlichen unterhalten. Ich hatte keine Ahnung, wie die heutzutage redeten. Da musste ich sehr genau aufpassen, Jugendliche haben ein feines Gehör für unauthentische oder aufgesetzte Sprache. Mit Grausen erinnere ich mich an den Vater eines Klassenkameraden, den ich morgens auf dem Schulweg abholte. Der Vater öffnete immer die Tür, zwinkerte mir zu und fragte Sachen wie: «Na, geht’s wieder in die Penne? Gibt’s wieder Ärger mit dem Pauker?» Was der Vater für akkuraten Jugendslang hielt, hörte sich für uns nur unglaublich peinlich an. So was durfte mir auf keinen Fall passieren. Ich brauchte also dringend einen Jugendlichen, der mich briefte. Aber wo sollte ich jetzt schnell einen herkriegen?
Ich ging zu einer Schule in der Nachbarschaft und lungerte vor dem Haupteingang herum. Der Mittagsgong schlug, die Kinder stürzten ins Freie. Einen besonders schönen Jüngling, dem die Föhntolle quer über den Kopf flog, sprach ich an und bot ihm Schokolade gegen Infos. Er ging darauf ein.
«Lerne mir deine Sprache», sagte ich.
«Lehre mich», sagte er.
«Nein, du sollst sie mir beibringen.»
«Lehre! Es heißt ‹Lehre mich›! Nicht ‹Lerne mir›! Das ist voll unkorrekt, lan!»
«Dann lehre mich eben. Ich finde Jugendsprache oberaffentittengeil, ich hab nur vergessen, wie man sie korrekt verwendet.»
«Du laberst voll schwul, lan.»
«Warum ‹lan›? Warum nicht ‹WLAN›?»
«‹Lan› ist türkisch, lan. Ist umgangssprachliche Verkürzung von ‹ulan› oder ‹oğlan›, heißt so viel wie ‹hey›, ‹Mensch›, ‹Alder›, lan!»
«Dufte, lan. Dann leg mal los, lan.»
«Okay. ‹Wallah› heißt so viel wie ‹echt›, lan. Musstu aber nicht verwechseln mit ‹Yallah›, das heißt ‹los›!»
«Echt? Äh – wallah?»
«Korrekt, lan.»
Bereitwillig stellte mir der Jüngling einen Fünfzig-Worte-Interventionskatalog zusammen, wir machten noch einige Konversationsübungen, wobei er häufig, ja eigentlich allzu häufig lachte. Dann verabschiedeten wir uns mit einem herzlichen «lan».
Bestens präpariert betrat ich am nächsten Tag die Europaschule. Im Inneren bot das altehrwürdige Schulhaus einen erschütternden Anblick. In den langen, dunklen Gängen roch es nach Fußkäse und altem Pausenbrot. Altersschwache Funzeln flackerten und surrten an der Decke, aus der Kabel baumelten. Im Zwielicht machte ich einen bärtigen Mann aus, er war Erdkundelehrer. Der hilfsbereite Herr begleitete mich zur Turnhalle, in der die Diskussionsrunde stattfinden sollte. Ob wir an einer Toilette vorbeikämen, fragte ich. Wir gingen in einen Seitengang, in dem es noch übler roch, nach Fäkalien und Schimmel. Er schloss eine Tür auf. Der Abort war grauenerregend, es stank bestialisch. Das Urinal war gelblich verkrustet, die WC-Schüssel gesprungen und unbebrillt. Dritte Sanitärwelt für die künftige Elite Deutschlands.
«Wie können Sie Ihren Schülern so was zumuten?», fragte ich den Erdkäs-Mann.
«Oh, ich habe Sie extra auf das Lehrerklo gelassen», antwortete er. «Das Schülerklo hätten Sie ohne Gasmaske garantiert nicht überlebt.»
Die Turnhalle war berstend voll mit Schülern. Angeblich waren alle freiwillig da. In der ersten Stuhlreihe saß der Stadtschülerrat, der eingeladen und Fragen für die Diskussionsteilnehmer
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