Mein Wahlkampf (German Edition)
überhaupt dem Publikum vorstellen konnten, ergriff eine dicke Frau das Wort und verkündete, sie sei die «Elternsprecherin» dieser Schule, zugleich aber auch «betroffene Mutter». Und als solche wolle sie uns einige «Diskussionsbausteine» mit auf den Weg geben. Sie zückte einen Zettel und las eine Art Kommandoerklärung vor, in der sie uns mit einer endlosen Folge von Vorwürfen und Anschuldigungen überzog – bis der Direktor sie endlich abwürgte und vollkommen berechtigt einwandte, dass nun aber auch mal die Kandidaten zu Wort kommen sollten.
Von Anfang an war die Stimmung sehr erregt. Die Eltern schienen wegen irgendwelcher Dinge aufgepeitscht, regelrecht aufgebracht, und hatten ihre Kinder wohl auch schon in ihrem Sinne indoktriniert. Außerdem fiel mir auf, dass sie von ihren Kindern immer nur als den «Kids», ja sogar als den «Kiddies» sprachen. Manchmal sagten sie auch «die Kleenen» oder «die Zwerge». Nie aber bezeichneten sie sie als das, was sie waren – Kinder. War das inzwischen verboten?
Wir Kandidaten hatten kaum etwas gesagt, da meldete sich auch schon die nächste Mutter zu Wort. Eine grauhaarige Frau mit asymmetrischer Frisur und einem großen, roten Ohrring stand auf und erklärte, dass es doch jetzt endlich mal an der Zeit sei, Publikumsfragen zuzulassen. Sie persönlich wolle nämlich zum Beispiel wissen, wie wir Politiker eigentlich zum Thema Inklusion stünden.
Wir mussten der Reihe nach antworten. Da ich links außen saß, wurde ich als Erster drangenommen. Das war eine gewisse Herausforderung, denn ich hatte keine Ahnung, wer oder was «Inklusion» genau war. Ich hatte das Wort nie zuvor gehört. Nachzufragen, gar Unkenntnis zu demonstrieren, konnte ich mir natürlich nicht leisten. Also erklärte ich, dass ich der Inklusion gegenüber grundsätzlich sehr positiv eingestellt sei, weil es ohne Inklusion, wie man ja wohl in der Vergangenheit gesehen und was die Geschichte auch schon eindeutig belegt habe … Kurz: Ohne Inklusion ginge es nun mal nicht. Freilich müsse man aber im Einzelfall sehr genau prüfen, ob hier noch der Idee der Inklusion als solcher – und das «als solcher» unterstrich ich mit stark erigiertem Zeigefinger –, als solcher also überhaupt noch Genüge getan werde oder ob die Inklusion möglicherweise nur ein Deckmäntelchen sei, um ganz andere Interessen durchzusetzen. Dann nämlich, und das könne keiner hier im Publikum wollen, und während ich das sagte, fixierte ich die Masse durchdringend, ja fast schon wahnsinnig, dann nämlich würde man dieser hervorragenden Idee der Inklusion einen Bärendienst erweisen. Jawohl. Konkrete Beispiele wolle ich hier und jetzt aber keine nennen, dafür fehle leider die Zeit, es wisse aber wohl jeder im Saal, was gemeint sei.
Meine Wortmeldung wurde mit zustimmendem Gemurmel und allgemeinem Kopfnicken quittiert. Ich hoffte nur, dass niemand nachfragen würde, was ich eigentlich genau meinte. Aus den nachfolgenden Äußerungen meiner Kontrahenten und der sich daran anschließenden Diskussion konnte ich mir dann aber erschließen, dass mit «Inklusion» anscheinend der gemeinsame Unterricht von Behinderten und völlig gesunden Kindern gemeint war.
Auf die nächste, noch verschärfte Publikumsfrage, wie wir denn den Fortschritt der Inklusion hier am Philipp-Reis-Gymnasium beurteilen würden – als wenn wir das könnten! –, antwortete ich: «Ich habe mir vor der Veranstaltung heute Abend die Website der Schule angesehen. Unter ‹Veranstaltungen›: kein Eintrag, auch nicht der heutige Termin. Unter ‹Lehrkörper›: kein Eintrag. Und unter ‹Anfahrt›: auch nichts. Da hatte ich den Eindruck, dass hier schon relativ viele Spastis und Behinderte am Werk sind, jedenfalls was die Außendarstellung der Schule betrifft.» Damit konnte ich noch einen kleinen Achtungserfolg erzielen.
Dann aber nahm der Abend eine fatale Wendung. Nachdem der Direktor darauf hingewiesen hatte, dass es schon ziemlich spät sei und er daher nur noch eine Frage gestatten könne, brach ein Sturm der Entrüstung los.
«Das geht nicht!», riefen die Eltern.
«Wir haben noch viele Fragen!», schrien die Kinder.
«So einfach kommen die nicht davon!», brüllten sie alle gemeinsam.
Per Abstimmung wurde entschieden, dass wir aus Zeitmangel keine Antworten mehr geben, uns aber die weiteren Fragen des Publikums anhören sollten. Dann hätten wir alle «ein Bausteinpäckchen zum Mit-nach-Hause-Nehmen». Die prompt auf uns einprasselnden
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