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Mein Wahlkampf (German Edition)

Mein Wahlkampf (German Edition)

Titel: Mein Wahlkampf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Maria Schmitt
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Fragen wuchsen sich zu langen und immer länger werdenden Vorwürfen aus. Natürlich ging es wieder um die Schulklos (anstatt dass die Eltern die mal sauber machten), um die liebe Inklusion (als wenn es nur Behinderte gäbe), um die schlechten Busverbindungen (als ob es keine Autos gäbe), um den häufigen Unterrichtsausfall (als wenn Schulkinder darüber traurig wären), über das fehlende Konzept für trilingualen Unterricht (anstatt den Kindern beizubringen, sich wenigstens in einer Sprache korrekt auszudrücken), es ging bald um alles Mögliche, um Lärmschutz und Klimaanlagen, um Schulspeisung, Laktoseintoleranz, Glutenallergie und probiotische Veganermahlzeiten, um Krethi und Plethi und des Kaisers Bart. Alles klagte, schimpfte und kotzte sich nach Kräften aus.
    Ich war fassungslos. Obwohl wir eindeutig die falschen Adressaten waren, sollten wir als beliebig verfügbare Beschimpfungspersonen herhalten, als menschliche Beschwerde-Mülleimer, in die jeder nach Herzenslust seinen Meinungsabfall werfen konnte. Stumm schauten wir Kandidaten uns an. Wie begossene Pudel ließen wir die Beschuldigungen, Erniedrigungen und Beleidigungen über uns ergehen.
    Was bildeten sich diese Leute eigentlich ein? «Was wollt ihr denn, ihr Pöbel?», hat Helmut Kohl 1991 aufgebrachten Demonstranten in Leipzig zugerufen – und hatte damit schwerwiegend recht. Für die paar Kröten, die man uns Politikern zugesteht, für diese lächerlich dünnen Diäten, hie und da mal eine Handvoll Übergangsgeld, eine kleine Aufwandsentschädigung oder Buschzulage, möglicherweise sogar einen kleinen Ehrensold, für diesen Gotteslohn, so glaubten nun diese feinen Herrschaften, konnten sie uns nach Belieben mit ihren Befindlichkeiten zutexten. Sollten sie ihre Probleme doch selbst lösen! Was hatten wir damit zu tun? Wir waren schließlich nur Politiker. Wir wollten nur unsere Ruhe!
    Ruhe – genau das war’s!
    Ganz langsam stand ich auf. Sagte aber nichts. Bis die Menge schließlich verstummte. Ich rückte meine Krawatte zurecht, schaute auf meine Uhr und sagte leise: «Ich möchte nun zum Abschluss John F. Kennedy zitieren, einen schlecht bezahlten Politiker, der bekanntlich von einem inkludierten Behinderten umgebracht wurde: ‹Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!›» Dann verließ ich den Saal.
    Mit den Schulen war ich ein für alle Mal fertig.

[zur Inhaltsübersicht]
    Die große Rede
    Wie man mit Worten allein die Herzen erreicht und den Sieg erringt
    Als ich sagte, das Wichtigste für einen Politiker sei die Talkshow oder das Diskussionsforum, da habe ich gelogen. Aber das macht nichts, als Politiker muss ich das manchmal sogar, ich wäre sonst unglaubwürdig. Da halte ich es ganz wie mein Vorbild, der gute Redner Otto von Bismarck, der genau wusste, was ihn ausmachte: «Ein guter Redner muss etwas vom Dichter haben, darf es also mit der Wahrheit nicht ganz mathematisch genau nehmen.»
    Viel wichtiger als der Dialog mit anderen ist für den Politiker der Monolog, die allein gehaltene große Rede. Sie ist die absolute Königsdisziplin. Große Reden können die Welt verändern. Sie können Zäsuren setzen, die Welt aus den Angeln heben, das Rad der Zeit eine Speiche weiterdrehen und den Beginn einer neuen Ära markieren. Sie können aber auch ungehört verhallen, verpuffen und komplett missverstanden werden.
    Mir kann das glücklicherweise nicht passieren, denn ich habe alle großen Reden der Weltgeschichte studiert, Jesus v. Nazareths Bergpredigt ebenso wie Obamas Change-Predigten, habe von Martin Luther bis Martin Luther King alles gelesen, ich analysierte Reichstags-, Bundestags- und Geburtstagsreden, ich las Ciceros Grundlagenwerk über den Redner De oratore im Original und dann noch mal auf Deutsch, weil ich kein Wort dieses lateinischen Gebrabbels verstanden habe.
    In Gustave Le Bons Politikerhandbuch Psychologie der Massen , das 1895 erschien, fand ich die wesentlichen Grundsätze der politischen Rede ausgebreitet: «Der Wähler hält darauf, dass man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt. Der Kandidat muss übertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen, die phantastischsten Versprechungen zu machen. Vor Arbeitern kann man ihren Arbeitgeber nicht genug beleidigen und schmähen. Den gegnerischen Bewerber wiederum muss man zu vernichten suchen, indem man durch Behauptung, Wiederholung und Übertragung zu beweisen sucht, er sei der ärgste Schuft, von

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