Mein Wahlkampf (German Edition)
dem jeder wisse, dass er etliche Verbrechen begangen habe. Selbstredend ist es unnötig, etwas vorbringen zu wollen, was einem Beweis ähnelt.»
Auch zum Problem des Parteiprogramms hat Le Bon eine klare Meinung: «Das geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein, weil seine Gegner es ihm später entgegenhalten könnten, aber sein mündliches Programm kann nicht übertrieben genug sein. Die außerordentlichsten Reformen dürfen in Aussicht gestellt werden. Für den Augenblick erzielen diese Übertreibungen große Wirkung und für die Zukunft verpflichten sie zu nichts.»
Studiert habe ich freilich auch die großen deutschen Reden der jüngeren Geschichte. Mit seiner «Hunnenrede» vor dem deutschen Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxeraufstands in China zementierte Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1900 die deutsche Kompetenz in nachhaltiger Entwicklungshilfe («Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht») und verbesserte die deutsch-chinesischen Beziehungen dahin gehend, «dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen». In seiner legendären «Sportpalastrede» schwor Joseph Goebbels seine Zuhörer auf den praktisch nicht mehr zu verhindernden Endsieg ein. Und mit seiner fast genauso legendären, 1997 im Hotel Adlon gehaltenen «Ruck-Rede» machte Bundespräsident Roman Herzog für alle Zeiten klar, dass, wer «Ruck» sagt, auch «Zuck» sagen muss.
In seltenen Fällen kann die größte auch die letzte Rede sein – wie etwa die unvergessene Ansprache des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum fünfzigsten Jahrestag der Novemberpogrome, die er am 10. November 1988 im Deutschen Bundestag hielt. Ohne auch nur einen Anflug von Pathos und Verve erklärte Jenninger den deutschen Faschismus zum «Faszinosum» und schilderte sodann in schlecht vorgetragener erlebter Rede die Verfolgung der Juden: «Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals –, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden?» Die Empörung war groß, Jenninger blieb nur der Rücktritt.
Solche Fehler werde ich vermeiden, wenn ich am Tag vor der Bundestagswahl in Berlin meine große, alles entscheidende Rede halten werde. Denn aus all dem zuvor Gelesenen und Gehörten habe ich die drei wichtigsten Grundsätze der erfolgreichen öffentlichen Rede destilliert. Diese Grundsätze sind so evident, so brillant formuliert und noch besser vermarktbar, dass ich sie bald sogar gebührenpflichtig ins Netz stellen werde. Für meine treuen Leser und Stammwähler seien sie hier aber schon mal aufgelistet:
Die drei wichtigsten gebührenpflichtigen Grundsätze der öffentlichen Rede
1 . Betone, wo du sprichst. Betone es immer wieder, denn nur, wo du gerade bist, da sind die anderen auch. Mit denen, die nicht da sind, willst du nichts zu tun haben.
2 . Betone, was du sprichst. Sage ruhig alles ein zweites und ein drittes Mal. Keine Angst vor Redundanzen!
3 . Betone, warum du sprichst. Gib den Menschen Sicherheit. Menschen sind Zauderer, die meisten haben Angst vor Veränderungen. Nimm ihnen diese Angst.
So bin ich bestens gewappnet, wenn ich bald die Mutter aller Reden halten werde. Ich fühle mich sicher, denn ich habe ein hervorragendes Redemanuskript, in dem teilweise auch einige meiner eigenen Ideen zu finden sind. Das ist ungewöhnlich. Die meisten Spitzenpolitiker lesen nur das ab, was ihnen die Redenschreiber vorformuliert haben. Ich aber pflege meinen eigenen, ganz persönlichen Stil – deswegen habe ich diese Rede, die der Politkommissar noch während des Frankfurter Wahlkampfs für meine spätere Kanzlerkandidatur nach meinen Wünschen vorformuliert hat, erst neulich mit meiner unverwechselbaren Handschrift verbessert und verändert, jedenfalls an einigen wenigen Stellen. Ich habe mich zwar bemüht, inhaltlich so vage wie möglich zu bleiben – allerdings bestand der Kommissar schon damals darauf, dass ich das deutsche Teilungsticket im Redeverlauf voll ausspiele.
«Aber die deutsche Einheit steht doch gar nicht mehr zur Diskussion», sagte ich.
«Ist doch egal. Die deutsche Zweistaatenlösung ist unser politisches Alleinstellungsmerkmal. Damit heben wir uns komplett von den Altparteien ab. Die Einheit ist die heilige Kuh der deutschen
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