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Mein Wahlkampf (German Edition)

Mein Wahlkampf (German Edition)

Titel: Mein Wahlkampf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Maria Schmitt
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Politik, da traut sich keiner ran. Obwohl die große Mehrheit der Westdeutschen noch nie im Osten war und umgekehrt. Dafür verelendet der Westen, und im Osten sitzen sie in Spaßbädern und verprassen den Solidarbeitrag. Das müssen Sie sich zu eigen machen, populistischer geht’s nicht!»
    Allerdings dürfe ich nicht vergessen, den Wähler in der Mitte zu umgarnen, denn nur in der Mitte seien noch Stimmen zu gewinnen, sagte der Kommissar. Und gerade der mittelmäßige Mitte-Wähler, der wolle absolut keine Veränderungen: «Die Leute haben Angst vor Reformen und Umwälzungen. Mit der deutschen Einheit wurde alles anders und vieles schlechter – versprechen Sie den Leuten einfach, diese Veränderungen wieder rückgängig zu machen. Die sind mit einem neuen Anstrich des Bewährten meistens schon zufrieden. Machen Sie lieber einen auf Stillstand – da machen Sie wenigstens nichts falsch!» Diese klare Position würden wir ja auch mit unserem neuen Häschen-Plakat ausdrücken: «Keine Experimente» prangt über dem Foto, und das bedeute nicht nur, dass wir gegen Tierversuche seien, sondern überhaupt gegen jeden Versuch, irgendetwas zu unternehmen.
    Doch braucht man nicht nur ein spitzenmäßiges Manuskript, auch die Wahl des Ortes ist für die Rede entscheidend. Ich werde durch die PARTEI einen nicht zu großen, aber auch nicht zu kleinen Raum in Berlin anmieten lassen. Vielleicht im Wedding oder in Schöneberg oder in Hellersdorf, keinesfalls aber in einem Trendbezirk. Damit das Publikum nicht nur aus einfältigen Zuzüglern besteht, sondern auch der ehrbare und authentische Berliner Pöbel vertreten ist, der Hitler, Honecker, Kennedy und Brandt gleichermaßen begeistert zujubelt, wenn es nur halbwegs was zu jubeln gibt. In den ersten Reihen werden die besten Claqueure der Stadt sitzen. Dazu handverlesenes Qualitätspublikum aus den Reihen der PARTEI. Die würden auch noch klatschen, wenn ein stummer Mann im Dunklen bei Stromausfall spräche.

    Ich sehe es schon ganz plastisch vor mir: Sie alle warten seit Stunden, dass es endlich losgeht. Meine Rede ist für acht Uhr abends angekündigt worden, und jetzt ist es schon halb elf. Weil ich mich in der Zeit vertan habe, was mir persönlich sehr leidtut. Weil ich zu spät los bin und die S-Bahn wieder kaputt war. Schienenersatzverkehr: Fehlanzeige. All das zeigt der aufgepeitschten und teils schon schamlos angetrunkenen Masse, dass ich einer der Ihren bin.

    Was schon Adenauer ahnte: Die Bürger wollen keine Veränderungen, sondern niedliche Haustiere und in Ruhe regiert werden.
    Dann beginne ich.
    Leise.
    Noch leiser.
    Kaum hörbar, um maximale Aufmerksamkeit zu erregen.
    So leise, bis schließlich einer schreit: «Mikro lauter!» – und der Techniker, der hier zum letzten Mal Techniker ist, endlich das Mikro lauter macht. Gut verständlich fahre ich fort, setze gekonnt Mimik, Pathos und Gestik ein, lächle hier in die Kameras, winke dort einer blinden Mutter zu, werfe Kusshände ins Publikum, zeige im grellen Scheinwerferlicht anspruchsvolle Handschattenspielereien: den Hund, die Eule und natürlich Willy Brandt, den kann ich nämlich besonders gut.
    Immer wieder wird meine Rede von Handyklingeltönen unterbrochen, aber auch von Beifallsgewittern. Die Menschen jubeln, schreien, klatschen, so stelle ich mir das vor – aber sie klatschen nicht lang genug. Ein Problem, das jeder große Redner kennt. Auch Bundespräsident Heinrich «Sehr geehrte Damen und Herrn, liebe Neger» Lübke rief seinem Publikum 1966 bei einer Rede in Berlin zu: «Sie müssten eigentlich mehr Beifall spenden, weil ich zwischendurch trinken muss, um meine Stimme zu schonen.»
    Diese meine Rede wird meine Gefolgschaft noch enger an mich binden, meine Kritiker mundtot und meine Gegner sprachlos machen, sie wird Merkel hinwegfegen und Steinbrück beschämt verstummen lassen, da ich Teile meines Vortrags sogar honorarfrei zum Besten geben werde.
    Manchmal wirkt die Rede auch sehr spontan, ja wie aus dem Stegreif gehalten, denn das macht die Rede lebendig. Auch das will jedoch gut vorbereitet sein, was mir der Blut-Schweiß-und-Tränen-Redner Winston Churchill bestätigt: «Am meisten Vorbereitung kosten mich immer meine spontan gehaltenen, improvisierten Reden.»
    Und deshalb will ich sie hier auch tatsächlich schon einmal halten, diese Rede, die ich, bevor es andere tun, die «Große Deutsche Rede» nenne:
Westberliner! Berliner! Deutsche!
In Berlin zu sprechen, liebe Redekonsumenten, ist etwas

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