Mein Wahlkampf (German Edition)
schießen waren.
Wie bitte? Ach so, stimmt ja: Ich wollte eigentlich von den Diskussionsrunden berichten. Da haben Sie natürlich ganz recht. Ich bedanke mich für die Zwischenfrage.
Wichtig ist vor allem, dass man gut vorbereitet ist. Dazu braucht man einen Mitarbeiterstab. Die Anwesenheit und die Zuarbeit dieser willigen Menschen bestätigt mir, dass es mich wirklich gibt. Ich bin ein weißes Blatt Papier, das sich erst durch die Informationen füllt, die mir mein Stab zuspielt.
So präparierten mich Chantal und der Politkommissar zum Beispiel für eine Podiumsdiskussion mit sämtlichen Frankfurter OB-Kandidaten, die in einer Kirche stattfinden sollte. Der Kommissar las aus der Zeitung vor: «Die Frankfurter Rundschau hat eine Umfrage gemacht – vierundvierzig Prozent der Befragten erklärten, sie trauten dem CDU-Mann in wirtschaftlichen Dingen am meisten zu.»
«Dann sollte ich wohl auch Wirtschaftsthemen ansprechen», warf ich ein. «Schulden reduzieren, massiv Steuern senken, solche Dinge. Und mehr Geld fürs Militär.»
«Wir haben doch hier gar kein eigenes Militär!», rief Chantal.
«Haben wir nicht? Das ist ein Skandal! Dann sind wir Aggressoren ja wehrlos ausgeliefert!»
Ich beauftragte den Politoffizier, den finanziellen Spielraum für die Aufstellung eines eigenen Heeres prüfen zu lassen, dann machte ich mich auf den Weg in die Kirche.
Stoisch ließ die dort versammelte Gemeinde die quälend langweilige Kandidatenbefragung durch einen Gemeindevorsteher über sich ergehen. Als endlich das Publikum Fragen stellen durfte, wurde es lebhaft. Ein Herr auf Krücken, der im hinteren Kirchenschiff die Wand abstützte, stellte uns Kandidaten mit vorwurfsvollem Unterton die Frage, ob wir denn nicht alle miteinander behindertenfeindlich seien.
Stille.
Noch bevor einer meiner Kontrahenten «Jaaa!» rufen konnte, ergriff ich die Initiative. Ich sagte: «Nein!»
«Na, das freut mich aber», höhnte der Krüppel und kam umständlich auf eine ganz bestimmte Rolltreppe zu sprechen, die ihm schon lange ein Dorn im Auge beziehungsweise ein Knüppel zwischen den Beinen war: «Am Kaisersack, da am Bahnhof, da sind doch diese Rolltreppen runter in die Unterführung. Jedes Mal, wenn ich da hinkomme, steht diese Rolltreppe still. Das ist für mich als Behinderten nicht hinnehmbar!»
Da ich das Mikrophon nun schon hatte, sprach ich auch hinein. «Diese Rolltreppe, guter Mann, steht schon seit Jahren unter meiner Beobachtung. Und auch unter der – ich darf das wohl sagen – meiner Mitbewerber», rief ich und erntete ein säuerlich solidarisches Nicken meiner Gegner. «Glauben Sie mir bitte: Diese Rolltreppe bereitet mir schlaflose Nächte. Deshalb verspreche ich hier und heute feierlich, und» – ich drehte meinen Leib kurz in Richtung Altar – «so wahr mir Gott helfe: Von allen hier anwesenden Kandidaten werde ich als Einziger dafür sorgen, dass diese Rolltreppe nach meinem Wahlsieg wieder rollt. Und zwar mit doppelter Geschwindigkeit, jawohl!»
Applaus im Saal und hasserfüllte Blicke meiner Podiumskollegen.
Einige Publikumsfragen später – der CDU-Mann schickte sich gerade an, sein Wirtschaftskonzept zu erklären – erhob sich eine Dame im Publikum und wütete ohne Hemmungen los: Sie habe jetzt genug von dem «abgehobenen Gelaber der Herrschaften» – schließlich sei man hier im Bahnhofsviertel, da sollten wir auch mal die Probleme vor Ort ansprechen. Zum Beispiel die der Huren.
Ein Raunen ging durchs Kirchenschiff.
«Jawohl, der Huren», sagte die Frau, «ich bin nämlich Hurensprecherin.» Sie missbilligte vor allem die Tatsache, dass die Prostituierten als Freiberuflerinnen jeden Tag fünfundzwanzig Euro städtische Steuer in ihren jeweiligen Bordellen entrichten müssten, die Kundschaft hingegen keinen Cent. Ob das denn angehen könne, rief sie und schaute uns wütend an.
Ich reagierte sofort, und zwar entsetzt. Ja, ich sei ehrlich schockiert zu erfahren, dass es in unserer schönen Stadt Prostitution gebe. Das hätte ich nicht gewusst. Wenn es aber nun mal so sei, dann müsse die Sache auch wirtschaftlich gerecht gestaltet werden, denn mein Wirtschaftskonzept basiere auf Gerechtigkeit, vor allem natürlich auf Steuergerechtigkeit. Damit die horizontalgewerbetreibenden Damen nicht mehr von zwielichtigen Bordellbossen ausgenommen werden könnten, müssten sie dringend eigene Arbeitsräume erhalten. Am besten in den Hochhausetagen der Stadt. Dann hätte die Banker- und Business-Kundschaft, die
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