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Mein Wahlkampf (German Edition)

Mein Wahlkampf (German Edition)

Titel: Mein Wahlkampf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Maria Schmitt
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Deutsche gegen amerikanische Saufbolde. Es war ein zähes Ringen um den Weltfrieden. Irgendwann gab Gorbatschow schließlich auf, und alle Raketen wurden verschrottet. Den drei toten US-Soldaten, die bei dem Raketenunfall ums Leben kamen, wurde ein Denkmal errichtet. Uns Sitzblockierern, den Bewahrern des Friedens, keines.

    Längst hatten wir den Startpunkt, das «Occupy Frankfurt»-Zeltcamp, hinter uns gelassen. Das letzte, noch nicht geräumte Lager der Globalisierungsgegner in Deutschland war inzwischen fast vollständig in der Hand von Alkoholikern, Straßenpunks und schwangeren Roma-Frauen. Teilnahmslos beobachteten sie unsere Protestgemeinde, die zahlenmäßig zwar nicht gigantisch war, jedoch wesentlich entschlossener und umstürzlerischer, ja insgesamt heroischer wirkte als die gesellschaftlich fragmentierte und versprengte Campbesatzung.
    Rätselhafterweise waren die vom Landeschef prognostizierten hunderttausend Demonstranten nicht vollzählig erschienen. Wenn man die «tausend» hintendran wegließ, stimmte die Zahl aber. Damit der Demonstrationszug dennoch einigermaßen stattlich wirkte, bekamen wir Verstärkung vom Staat: Gut hundert Polizisten sicherten den Zug, was unsere optische Präsenz ziemlich genau verdoppelte. Jetzt wurde mir auch klar, warum bei Kundgebungen die Teilnehmerzahlen, die die Veranstalter angeben, immer zweimal so hoch ausfallen wie die der Polizei. Die Letzteren rechnen ihre eigenen Leute einfach nicht mit. Warum? Sind die etwa nichts wert?
    Tapfer schlängelte sich der so kleine wie feine Demonstrationszug durch die dunklen Schluchten des Bankenviertels. Geisterstadtgefühl, verwaiste Boulevards. Es war Samstag, keiner arbeitete, und der Verkehr wurde von der Polizei umgeleitet. Wir hatten die Straßen ganz für uns allein. Minimalinvasiv drangen wir tief in den Körper der Gesellschaft ein.
    Der leuchtend orangerote Schopf des Aktivisten tauchte neben mir auf. Er trug Tarnfleckenkleidung und eine passend rote Weste mit Verdi-Logo, auf der «Ordner» stand. In der rechten Hand hielt er ein Megaphon, in der linken Hand Chantal. Offenbar fühlte er sich für die Praktikantin verantwortlich, auf die das großstädtische Frankfurt unbedingt furchteinflößend wirken musste, weil sie ja aus Offenbach stammte. Er deutete auf die großen, meterhohen Wahlplakatträger der Konkurrenten, die wir gerade passierten.
    «Solche Dinger brauchen wir auch.»
    «Auf jeden Fall», pflichtete ich ihm bei. «Aber die sind extrem teuer.»
    Er blickte mich verwegen an. «Wir leihen uns einfach ein paar aus.»
    «Du meinst, wir sollten nachts mal losziehen und sie wegtragen?»
    «Tagsüber natürlich! Wenn du Plakatwände klauen willst», dozierte der Aktivist, «dann immer nur vor aller Augen! Wenn du nachts in dunklen Klamotten kommst und die Dinger abmontierst, ist in dreißig Sekunden die Polizei da. Wenn du am helllichten Tag kommst, mit ’nem großen Lieferwagen und ’ner grellen Warnweste an, dann hilft dir die Polizei noch beim Einladen, du wirst sehen.»
    Stolz strahlte Chantal ihn an. Jetzt fiel mir auf, dass die beiden ja die ganze Zeit Hand in Hand gingen. Lief da was? War Chantal nicht eigentlich mir verfallen? Ich ließ mir erst mal nichts anmerken.
    «Ich war neulich auf ’ner Verdi-Demo», erzählte der Rothaarige, «da standen nur so ’n paar Hansel in roten Gewerkschaftswesten rum. Zwei Passanten gingen vorbei, sagt der eine zum andern: ‹Guck mal, ein Flashmob.›» Das dürfe uns heute auf keinen Fall passieren, und deswegen müsse nun durch Transparentschwenken und Megaphongebrüll der Eindruck größtmöglicher Geschlossenheit und Aktivität erzeugt werden. Er drückte mir das Megaphon in die Hand.
    «Hier – leg los!»
    «Womit denn?»
    «Na, mit Parolen! Der Anführer gibt die Parolen vor. Und wir brüllen dann alle mit.»
    Richtig – natürlich mussten wir Parolen brüllen. Aber welche? Ich hatte keine vorbereitet. Mir fielen nur die alten Sponti-Sprüche ein, die wir auf den Ostermärschen meiner friedensbewegten Jugend gebrüllt hatten. Ich war ein leidenschaftlicher Ostermarschierer. Im Prinzip bin ich meine komplette Jugend über an Ostern durchmarschiert. Für den Frieden. Und wogegen waren wir? Genau – gegen die Rüstung. Aber total. Während Joseph Beuys sang: Wir wollen Sonne statt Reagan / Ohne Rüstung leben / Ob West, ob Ost / Auf Raketen muss Rost , skandierten wir: Deutsche Waffen, deutsches Geld / morden mit in aller Welt . Und dazwischen immer mal

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