Mein Wahlkampf (German Edition)
brüllte ins Megaphon: Joschka Fischer eil herbei / Prügle uns die Straßen frei! Was allgemeinen Anklang fand. Als er aber schrie Schröder-, Fischer-, Scharping-Pack / Wir haben eure Bomben satt und die Passanten uns immer verwirrter anstarrten, musste ich ihm die Brülltüte wieder abnehmen.
Ich ließ mich ein wenig zurückfallen. Im hintersten Teil des Zugs stapfte der Politkommissar, seltsam bleich hinter seinem Spitzbart, die Hände tief in den Parkataschen vergraben. Wenn er überhaupt etwas ausstrahlte, dann Missmut.
«He, was ist los?», fragte ich ihn. «Die Demo läuft doch super!»
«Diese Schweine», murmelte er. «Diese perversen Säue.»
«Lass mal gut sein, alles halb so wild. Ich finde, die Bullen machen ihren Job ganz okay.»
Aus dunklen Augenhöhlen funkelte er mich an. «Die gehen zusammen! Diese perversen Säue. Die sind ein Paar, sind die!»
Nur mit Mühe war aus ihm herauszubringen, was geschehen war: Er hatte wohl am Vortag den Aktivisten und Chantal in einer «eindeutig kompromittierenden Situation» erwischt – im Hinterzimmer der Kampa-Gaststätte. Details wollte er um keinen Preis nennen. Er sagte nur: «Bill Clinton und das Oral Office.»
Was wollte er mir damit sagen? Hatte er die beiden beim Telefonsex erwischt? Mit Handys im Hinterzimmer? Was machte das für einen Sinn? Oder war es etwa zum Oralverkehr gekommen, jedoch ohne dass dabei inhaliert wurde? War irgendwo ein beflecktes Laken gefunden worden? Und warum hatte ich davon nicht schon früher erfahren?
Ich wetzte wieder nach vorn, vorbei an dem frischgebackenen Aktivistenpaar, und stellte den Landesvorsitzenden zur Rede. Doch der winkte nur ab. Er erzählte mir von den Strafmaßnahmen gegen den Aktivisten, die der Politkommissar schon bei ihm gefordert hätte. Er sei damit nicht einverstanden.
«Zuerst hat er beantragt, dass wir den Aktivisten alle gemeinsam töten. Fememord und so. Mit Mühe hab ich ihn dann auf ein Parteiausschlussverfahren runtergehandelt. Tun können wir aber letztendlich gar nichts. Liebe ist ja schließlich kein Vergehen», beschloss der Landesvorsitzende überraschend schnell seine Analyse.
«Entschuldige mal», protestierte ich, «wir müssen hier irgendwie reagieren! Der Kommissar dreht uns sonst durch!»
«Ich weiß das ja schon länger, ich regle das. Die Demo ist jetzt wichtiger. Wir haben nicht mehr viel Zeit bis zur Wahl. Das ist die letzte Gelegenheit, groß in die Medien zu kommen.»
Ich war mir auf einmal gar nicht mehr sicher, ob der Landeschef tatsächlich alles im Griff hatte. Ob er wirklich so mächtig war, wie er immer tat. Ich hakte nach: «Du hast also von der Sache gewusst? Und mich nicht informiert?»
«Ich hätte es dir schon noch gesagt, aber ich wollte erst Klarheit, ob der Politkommissar sich das nicht nur ausgedacht hat. Der ist ja selber krankhaft heiß auf Chantal.»
Ich war ziemlich erstaunt. Ich stand zwar eindeutig an der Spitze des parteiinternen Informationsflussdiagramms, das der Inspizient penibel genau erarbeitet hatte, er selbst hatte dabei aber bereits mehrfach den offiziellen Dienstweg durch alle Instanzen ignoriert und mir unter Umgehung des Landesvorsitzenden direkt berichtet. Natürlich nur, um mir zu zeigen, über welch immensen Informationszugriff er – im Gegensatz zum Landesvorsitzenden, den er ja beerben wollte – verfügte. Ich hatte mich damit abgefunden, nur noch vorgefilterte und aufbereitete Informationen zu bekommen, das waren eben die Weitergabehierarchien. Dass man aber nach Gutdünken den passenden Zeitpunkt abwartete, mich mit einer Information zu versorgen – das erzürnte mich. War ich, der Spitzenkandidat, überhaupt noch Herr dieser Kampagne?
Ich spürte, dass ich gerade dabei war, irgendwie die Kontrolle über die Informationslage zu verlieren. Denn natürlich filterte auch ich Informationen und spielte sie, je nach Nutzwert, nur einzelnen Auserwählten zu – verlor dann aber schnell den Überblick, wem ich was warum gesagt hatte. Also beschloss ich immer häufiger, gar nichts mehr zu sagen. Und wenn ich etwas sagte, benutzte ich nur noch Politiker-Angebersprech-Sätze, wie sie etwa mein politisches Vorbild Lafontaine gebraucht hatte, als er noch Finanzminister war: «Ich habe entschieden, dass wir hier vorerst keine Entscheidung treffen.»
Dabei lief die Kampagnen-Kommunikation gerade ziemlich rund. Die Frankfurter Neue Presse hatte zur Online-Abstimmung aufgerufen: «Wer soll Frankfurts nächster OB werden?» Als ich die
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