Mein Wahlkampf (German Edition)
verdanken. Dem Mann, den er mit dem undotierten Posten des Ehrenvorsitzenden abgespeist hat. Das durfte aber in dieser Situation nicht nach außen dringen. Diese verblendeten PARTEI-Leute, die hier herumsaßen, waren völlig auf Sonneborn fixiert, seinem falschen Führerkult erlegen. An der Wahrheit waren sie nicht interessiert. Außerdem brauchte ich diese Leute, sie mussten mir zur Macht verhelfen. Erst dann würde ich mit der ganzen Geschichte herauskommen. Bis dahin wollte ich mir nichts anmerken lassen. Ich setzte mein Pokerface auf, das in Zukunft mein Politikerface sein würde. Niemand konnte mir etwas ansehen.
«Herr Kandidat, ist Ihnen schlecht? Sie schauen so komisch», sagte die anorektische Webmasterin und blickte mich besorgt an. Doch die Freude über meine offenbar einstimmige Ernennung überwog, keine meiner bisherigen Kandidaturen hatte einen so grandiosen Auftakt.
Ich hielt eine spontane Dankesrede: «Jugend der Welt! Frankfurter! Deutsche! Römer!», rief ich vergleichsweise sinnlos, was aber keinen zu stören schien. «Mein Ehrenwort: Ich werde euch glorreichen Zeiten entgegenführen! Gemeinsam werden wir es schaffen! Wir werden siegen! Weil wir ein gewaltiges Wahlprogramm aufstellen, mit so vielen Programmpunkten, dass auch noch für den letzten Vollkoffer irgendetwas dabei ist! Wir werden mit allen Mitteln arbeiten, ja, wir werden sogar den in Frankfurt allgegenwärtigen Hass auf unsere kleine, beschissene Nachbarstadt Offenbach schüren und uns zunutze machen, so wahr mir Gott helfe!» Neuerlicher Applaus brandete auf. Was mich nur noch mehr aufpeitschte. Ich stieg auf einen Stuhl und schrie: «So wahr ich hier auf diesem Scheißstuhl stehe, Parteigenossen – ich aber werde euch und dem Wahlvolk fünfundneunzig Thesen verkünden! Keine mehr und keine weniger. Die Fünfundneunzig ist eine gut eingeführte Zahl, was Neuerungen anbelangt. Verlasst euch drauf! Es lebe das heilige Deutschland!» Das Protokoll vermerkt: «Langanhaltender, spontaner Beifall.»
Aber hatte ich mich mit fünfundneunzig Thesen nicht eindeutig übernommen? Und blieb mir überhaupt genug Zeit? Tags darauf las ich staunenden Auges im Journal Frankfurt :
«Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr – bald schon will Oliver Maria Schmitt offiziell seine Kandidatur für die Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main bekanntgeben und sein Programm vorstellen. Und das, obwohl ihm noch einige Unterstützerunterschriften fehlen. Schmitt tritt an für die Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative (Die PARTEI), deren Ehrenvorsitzender er seit Gründung im Jahr 2004 ist. Einzelheiten zum Programm ‹95 Thesen für Frankfurt – und keine für Offenbach› sowie eine Facebook-Seite, eine neue Frisur und das erste offizielle Wahlplakat werden demnächst vorgestellt.»
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Der Kandidat
Wie man zum strahlenden Siegertyp der Demokratie wird
Dass ich einmal Spitzenpolitiker werden würde, zeigt schon meine Biographie. Ich bin das Ergebnis einer großen Koalition meiner Eltern. Eines schönen Tages lag ein Säugling meines Namens in einer versiegelten Wahlurne.
So war mein Lebensweg von Geburt an vorgezeichnet. Kaum war ich im Geltungsbereich des Grundgesetzes angekommen, bemühte ich mich um größtmögliche Transparenz. Ich legte sämtliche Zuwendungen, die ich in flüssiger oder fester Form erhielt, nach kurzer Prüfungs- und Verweildauer in meinem Körper unverzüglich offen – ebenfalls in fester oder flüssiger Form. Ich bewahrte eine gesunde Bodennähe und entschied mich bereits im ersten Lebensjahr für eine Politik der kleinen Schritte; die dann im Laufe meiner Adoleszenz immer größer und entschiedener ausfallen sollten. Ich ging meinen Weg, einen anderen gab es nicht. Nur als Politiker, das war mir klar, würde ich die Welt verbessern können – und damit auch meine eigene Situation.
Noch im ersten Jahr meines Lebens erlernte ich das Sprechen, und das Reden gleich mit. Seitdem äußere ich mich nur noch in kurzen, klaren Sätzen. Diesem für mich typischen Sprachstil blieb ich treu. Damit mich der Wähler gut versteht. Und meine Botschaft ankommt. Als weitere vertrauensbildende Maßnahme legte ich mir ganz bewusst sympathische Gesichtszüge zu, weil mir früh klar war, dass ich einmal für eine Politik mit menschlichem Antlitz stehen würde. Seelenlose Sachpolitik kam für mich nicht in Frage. Dafür war ich zu selig, vor allem zu redselig,
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