Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
man dem Häftling Fouquet im 17. Jahrhundert erst 15 Jahre nach dem Urteil einen Besuch seiner Gemahlin. Der Häftling Chodorkowski erhielt im 21. Jahrhundert immerhin schon fünf Jahre nach Beginn des zweiten Strafverfahrens im Jahr 2006 einen längeren Besuch von seiner Familie. Wir waren gerade dabei, dieses Buch zu Ende zu schreiben, als er nach all diesen Jahren zum ersten Mal wieder seine Frau und seine Kinder in die Arme schließen konnte – in der Strafkolonie Nr. 7 im Kreis Segesha, Karelien, wo er, wenn kein Wunder geschieht, die verbleibenden fünf von vierzehn Jahren, zu denen er nach dem zweiten Verfahren verurteilt wurde, absitzen muss (abzüglich der zu diesem Zeitpunkt bereits verbüßten sieben Jahre). Segesha liegt rund 700 Kilometer nördlich von Petersburg, die Temperaturen schwanken zwischen –25 Grad im Winter und +25 Grad im Sommer. Und doch ist das näher an Moskau und klimatisch schonender als in der Strafkolonie im sibirischen Krasnokamensk, wo er nach dem ersten, 2005 gefällten Urteil einsaß.
Inna, Chodorkowskis Frau, erzählte mir einmal von ihrem allerersten längeren Wiedersehen nach der Verhaftung, in Sibirien: »Unsere Tochter war damals zwölf, die Zwillinge vier Jahre alt, ich nahm sie nicht mit dorthin. Jetzt, in Segesha, konnten sie ihren Papa besuchen. Aber nach Krasnokamensk … Dahin ist es fast wie mit der Postkutsche, man brauchte drei volle Tage für die Reise. Es war Oktober, dort war es schon kalt. Wie soll ich dir das erklären … Seit seiner Verhaftung waren zwei Jahre vergangen. Und als wir zusammen waren, hatte ich das erste Mal seit zwei Jahren das Gefühl der Geborgenheit. Ich verschlief die ganzen drei Tage. Ich machte die Augen auf, hörte, dass jemand mit ihm spricht, und machte sie wieder zu. Ich konnte einfach nicht aufstehen. Ich musste ihm nichts erklären. Er machte Rührei, gab mir zu essen. Und ich schlief wieder ein. Ich hatte das Gefühl, mich entspannen zu können. Das war eine Art ›Loslassen‹ von dieser Anspannung, die seit der Verhaftung keinen Moment ausgesetzt hatte. Und auch danach lange nicht wegging.«
Von Dezember 2006 bis Juni 2011 war Chodorkowski permanent im Gefängnis oder im Gerichtssaal, in dieser Zeit waren Besuche nur einmal monatlich erlaubt. Zwei winzige Stühlchen vor einer vergitterten Glasscheibe, ein Telefon. Und er auf der anderen Seite der Scheibe. Einmal im Monat kamen seine Eltern, im nächsten Monat seine Frau – entweder mit der Tochter oder den Söhnen. Die gesamte Familie in diesem winzigen Raum unterzubringen, wäre schlichtweg unmöglich gewesen.
Wie viel ist passiert, seit die Idee zu diesem Buch entstand! Und in all der Zeit nur ein freudiges Ereignis: Swetlana Bachmina, Juristin bei Yukos, kam wieder frei. Die Mutter von zwei kleinen Kindern, die in der Strafkolonie ein drittes zur Welt brachte, war im Jahr 2006, mit 37 Jahren, einfach zwischen die Mühlsteine der einmal angeworfenen Repressionsmaschinerie geraten und zu sieben Jahren verurteilt worden, weil sie wer weiß was und zu wessen Gunsten unterschlagen haben sollte. Sie wurde 2009 entlassen, nach einem Begnadigungsgesuch und Tausenden von Unterschriften, die im Internet für ihre Freilassung gesammelt worden waren.
Im Oktober 2011 verstarb, keine 40 Jahre alt, Wassili Alexanjan, ein schöner und kluger Mann, Absolvent der Universitäten Moskau und Harvard, der die Rechtsabteilung des Yukos-Konzerns geleitet hatte. Er hatte gegen Chodorkowski und Lebedew aussagen sollen. Aber er hatte nicht ausgesagt. Das Gefängnis hat ihn umgebracht: Innerhalb von zwei Jahren wurde er dort zum Invaliden, beinahe erblindet, an Krebs, AIDS und Tuberkulose erkrankt. Zum Sterben ließ man ihn nach Hause – gegen eine Kaution von 50 Millionen Rubel.
In der Zeit, in der dieses Buch geschrieben wurde, ist die Hoffnung auf Präsident Medwedew als einen wirklichen Präsidenten und professionellen Juristen aufgekeimt und wieder erstorben. Chodorkowski war und bleibt Putins Gefangener, es ist Putin, der Chodorkowski seine Frist zumisst. Mit Recht hat diese ganze Geschichte nicht mehr zu tun als Putins Wahl für eine dritte Amtszeit mit einer Wahl im herkömmlichen Sinne des Wortes.
Als wir den Plan zu diesem Buch fassten, war Chodorkowskis Schlussplädoyer im zweiten Prozess noch nicht gesprochen, sein Satz »Ich schäme mich für mein Land« noch nicht gefallen. In seiner Rede hieß es weiter:
»Ich bin keineswegs ein idealer Mensch, aber ich bin ein Mensch der Ideen.
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