Mein Wille geschehe
Romanidis und kam
zu dem Schluss, dass sie Korba noch fünf Minu-
ten Zeit zum Essen lassen konnte, bevor er sich
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um die siebzehnten Drillinge des Hill House
kümmern musste.
In einem anderen Raum oben hatte Betsy Toth
die Patientin Joyce O’Mara gerade für einen Ab-
bruch vorbereitet und wartete nun auf Joseph
Heradia, der eine Verabredung außer Haus ge-
habt hatte. Die einundzwanzigjährige Schwes-
ternhelferin dachte, wie häufig in den letzten zwei Wochen, mit freudiger Erregung darüber nach, ob
sie vielleicht schwanger war, und hoffte, dass ihr Verlobter Andy über das verfrühte Ereignis nicht
ungehalten sein würde. In einigen Monaten woll-
ten sie heiraten.
In der zweiten Etage, in der man erst unlängst
neue Tapeten mit einem fröhlichen Muster aus
bunten Streifen und Teddybären angebracht hat-
te, war es Ruth Zelkin, der lebhaften dreiundfünfzigjährigen Leiterin der Kindertagesstätte, endlich gelungen, auch noch das letzte Kind, den stroh-blonden Jason Holman, zum Mittagsschlaf zu ü-
berreden, und nun freute sie sich auf ihre redlich verdiente Kaffeepause. Auf der anderen Seite des
Flurs war Brenda Kiley damit beschäftigt, die
niedlichen vier Monate alten Gamble-Zwillinge zu
füttern, Christopher und Jennifer. Die beiden wa-
ren zwar keine eineiigen Zwillinge, hatten aber
dennoch beide dieselben hellblauen Augen und
blonden Löckchen und dasselbe strahlende Lä-
cheln.
Jesse Montero, der zweiundvierzigjährige Haus-
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meister des Hill House, hatte gerade im Werk-
zeugschuppen hinter dem Gebäude mehrere Kis-
ten mit Glühbirnen verstaut. Er hatte soeben ein
paar Mal verbotenerweise an einer Zigarette ge-
zogen und dabei darauf geachtet, dass ihn nie-
mand sah. Jetzt war er dabei, das Vorhänge-
schloss an der Tür des Schuppens wieder anzu-
bringen.
Carl Gentry, einer der Wachleute, stand auf sei-
nem Posten auf der Veranda. Er war sechsund-
vierzig und vor kurzem geschieden worden, und
er dachte an die Frau, die er am Vorabend ken-
nen gelernt hatte und von der er sich erst heute
Morgen nach dem Frühstück verabschiedet hatte.
Er hoffte, dass ihr die Nacht so gut gefallen hatte wie ihm, und überlegte, wann er sie wohl wieder
anrufen konnte. Was dann passierte, geschah so
unvermittelt, dass hinterher jeder Augenzeuge
etwas anderes berichtete. Eine oder auch mehre-
re heftige Erschütterungen ließen die Erde erzit-
tern. Wände und Fenster benachbarter Gebäude
zersplitterten. Hill House schien zunächst zu
erbeben und brach dann in sich zusammen. Eini-
ge Zeugen berichteten auch, es sei sofort zu-
sammengebrochen. Teile der Wände flogen in alle
Richtungen. Andere Augenzeugen sagten, das
Haus sei bei der Explosion zunächst nach oben
gestiegen und dann in sich zusammengefallen.
Gleich danach begann es an mehreren Stellen zu
brennen.
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In einem Operationssaal des Swedish Hospital
zwei Straßen weiter östlich hörte Janet Holman
einen Knall und dachte zunächst, irgendwo sei
etwas Schweres heruntergefallen. Dann schwank-
te der Boden unter ihren Füßen. »Was war denn
das?«, fragte die Orthopädin durch ihren Mund-
schutz. »Ein Erdbeben?«
»So hat es sich angefühlt«, antwortete eine der
Schwestern. »Übernehmen Sie bitte mal«, wies
Janet den Assistenzarzt an. »Ich möchte nur
nachsehen, ob mit Jason alles in Ordnung ist.«
Im Madison Medical Tower gegenüber zersprang
die Glasscheibe in Helen Gambles Kabine, und es
regnete Scherben auf den Arbeitsplatz der Kas-
siererin. Obwohl sie aus mehreren Schnitten am
Hals und am Kopf blutete, sprang Helen auf, um
sich zu versichern, dass den Zwillingen im Hill
House nichts geschehen war. Als sie durch die
Reste der Scheibe nach draußen blickte, bot sich
ihr ein Anblick des Grauens.
»Was war denn das?«, fragte Judith Purcell, die
gerade im Begriff war, sich ein Stück Brot in den Mund zu stecken. »Um diese Jahreszeit gibt es
doch keine Gewitter.« Das Restaurant war etwa
anderthalb Kilometer vom Hill House entfernt,
doch jeder hatte das dumpfe Grollen gehört und
die Erschütterung gespürt.
Dana McAuliffe dachte an die Eisenbahnstrecke
am Hafen. »Vielleicht ein Zugunglück«, mutmaß-
te sie und hoffte, dass niemand verletzt worden
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war.
Die Anwältin konnte in diesem Augenblick noch
nicht ahnen, was geschehen war und welche
Auswirkungen dieses Ereignis auf ihr eigenes Le-
ben haben würde.
Das hundert Jahre alte Gebäude hatte sich
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