Mein Wille geschehe
einen Schwangerschaftsabbruch
vornehmen lassen, und ich beteilige mich auch
nicht daran«, sagte Shelly Weld, eine Schwester
aus der Klinik, eines Tages zu den Marschierern.
»Aber ich würde mir niemals anmaßen, einem
anderen Menschen vorzuschreiben, was er tun
soll.«
Woraufhin sie lediglich zur Antwort erhielt:
»Wenn Sie weiter im Haus des Teufels weilen,
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wird Ihre Seele bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren.«
Insgesamt waren neunzig Menschen in dem Ge-
bäude tätig, das eine Fläche von etwas mehr als
achthundert Quadratmetern umfasste – vier Ärz-
te, die auf Gynäkologie und Geburtshilfe spezialisiert waren, drei Familienberater, zwei Radiolo-
gen, zwei Anästhesisten, ein Apotheker mit sei-
nem Assistenten, neun Krankenschwestern, elf
Schwesternhelferinnen und sieben Laboranten.
Ferner waren dort zwei Sozialarbeiter, drei Psy-
chiater, acht Psychologen, sechzehn Kindergärt-
nerinnen, drei Rezeptionisten, ein Verwalter mit
zwei Assistenten, zwei Sekretärinnen, ein kauf-
männischer Leiter, zwei Buchhalter, zwei Haus-
meister, zwei Wachleute und sechs Reinigungs-
kräfte im Einsatz. Tagtäglich kamen überdies
mindestens dreihundert Leute in das Gebäude,
um die Dienste des Hill House in Anspruch zu
nehmen.
Die Verwaltung war im Parterre unweit des Ein-
gangs untergebracht, Labors, Apotheke und Be-
ratungsräume befanden sich im hinteren Teil des
Hauses. Die mit modernster Technik ausgestatte-
ten Behandlungsräume nahmen die erste Etage
ein.
Und jeden Morgen wurden über siebzig Kinder,
die zwischen zwei Monaten und fünf Jahren alt
waren, in die Kindertagesstätte im zweiten Stock
gebracht. Meist handelte es sich dabei um den
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Nachwuchs des Personals aus der Klinik selbst
und aus den anderen Krankenhäusern in der Ge-
gend. Die Eltern waren stolz, dass ihre Kinder die beste Betreuung der Stadt bekamen, und wussten, dass sie froh darüber sein konnten. Auf der
Warteliste standen grundsätzlich mindestens
fünfzig weitere Namen.
Um zwei Uhr mittags am ersten Dienstag im Feb-
ruar war der Himmel bedeckt, und es hatte nicht
mehr als zehn Grad. Zankende Krähen lärmten in
der Lorbeerhecke, und aus einer Bäckerei in der
Nähe wehte der Duft von Zimt heran. Sechs Paa-
re und fünf Frauen hatten sich zu einer Beratung
im Haus eingefunden. Sieben Frauen ließen Un-
tersuchungen vornehmen. Drei Mütter hielten
sich mit ihren Neugeborenen und Familienmit-
gliedern in Zimmern im ersten Stock auf. Eine
Frau wurde für einen Schwangerschaftsabbruch
vorbereitet, zwei Frauen lagen in den Wehen, ein
Vater und eine Großmutter liefen unruhig in der
Entbindungsstation auf und ab, und neunzehn
Personen warteten in der Eingangshalle auf ihren
Termin. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa
zweihundertdreißig Menschen im Hill House.
Frances Stocker, eine patente sechzigjährige Psy-
chologin, hatte um diese Uhrzeit in ihrem Zimmer
im ersten Stock bereits Gespräche mit Eltern ei-
nes autistischen Jungen, einer Frau, die erwog,
sich scheiden zu lassen, und einem fünfzehnjäh-
rigen schwangeren Mädchen geführt. Ihre nächs-
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te Klientin war Grace Pauley, eine zarte nervöse
Frau, die endlich professionelle Hilfe suchte, weil ihr Mann sie seit Jahren misshandelte. Wenn
Frances manchmal an ihrem Beruf zu zweifeln
begann, wurde ihr nach einem Tag wie diesem
immer wieder bewusst, wie wichtig ihre Arbeit
war und wie leer ihr Leben ohne ihren Beruf sein
würde. In einem Behandlungsraum auf demsel-
ben Flur überwachte die Röntgenärztin Claire Cal-
lahan den Ultraschall bei einer schwangeren Frau, bei der wohl ein Kaiserschnitt vonnöten sein wür-de, da sich das Kind in Steißlage befand. Claire, selbst allein erziehende Mutter, hatte noch kurz
zuvor mit ihrer dreijährigen Tochter Chelsea in
der Kindertagesstätte zu Mittag gegessen, wie sie es jeden Tag zu tun pflegte. Im ersten Stock hatte sich der Geburtshelfer Jeffrey Korba, ein gro-
ßer Mann, dem mit seinen zweiundvierzig Jahren
zusehends die Haare ausgingen, in sein Büro zu-
rückgezogen, wo er ein Sandwich mit Huhn ver-
speiste, es mit Mineralwasser hinunterspülte und
dabei überlegte, ob ihm vor seiner zweiten Ge-
burt an diesem Tag wohl noch genügend Zeit
blieb, seine Frau anzurufen. Sie hatten sich mor-
gens wegen einer Waschmaschine gestritten, und
das tat ihm nun furchtbar Leid.
In einem der vier Kreißsäle überwachte Shelly
Weld die Wehen von Denise
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