Mein Wille geschehe
fragte Joshua
und sah einem elegant gekleideten Paar nach,
das durch das Tor schritt. »Weil ich ’n Feuer ma-
chen könnte?«
»Na klar kannst du da rein. Gleich morgens,
wenn du willst, und den ganzen Tag. Du kannst
bloß nicht dort schlafen, weil sie sauer werden,
wenn sie’s merken, und dann wäre es für uns alle
zappendüster. Verstehst du?« Joshua zog mit der
Schuhspitze einen Riss im Pflaster nach. »Hm«,
antwortete er. »Dann ist gut«, sagte Big Dug.
Als Joshua sechs Jahre alt war, hatten Arzte in
Wisconsin ihn für geistig zurückgeblieben erklärt, woraufhin seine Mutter, die noch vier andere Kinder von drei verschiedenen Männern großziehen
musste, ihn dem Staat überantwortete. »Ich
hab’s schon schwer genug«, sagte sie. »Hab kei-
ne Zeit für Trottel.«
Der Staat zog Joshua auf, so gut es ging. Man
bemühte sich, einen anständigen Bürger und gu-
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ten Christen aus ihm zu machen, brachte ihm bei,
sich alleine über Wasser zu halten, und entließ
ihn mit einundzwanzig Jahren ins Leben, wie es
der Gesetzgeber vorschrieb. Er war selbstständig
und konnte einfache Anweisungen ausführen.
Er arbeitete als Tellerwäscher in Restaurants oder wischte in Bürogebäuden die Böden und reinigte
die Toiletten. Doch wenn ihn keiner dazu anhielt, vergaß er manchmal, zur Arbeit zu gehen, und
dann regte sich sein Chef auf und feuerte ihn,
und Joshua musste sich nach einem anderen Re-
staurant oder Bürohaus umschauen. Wenn er
nicht genug Geld für eine Unterkunft hatte,
schlief er auf der Straße. Eines Tages verließ er Wisconsin, ohne es zu merken. Er stieg einfach
zu einem Mann in den Wagen, der ihm anbot, ihn
mitzunehmen, und landete in Minnesota. Er
merkte den Unterschied gar nicht. Schließlich gab es auch in Minnesota Restaurants und Bürohäuser. Als er nach Seattle kam, war Joshua zwei-
unddreißig Jahre alt.
Er hatte noch nie im Leben ein für ihn liebevoll
zubereitetes Essen verspeist, in einem weichen
Bett geschlafen oder den warmen Körper eines
anderen Menschen gespürt. Aber er konnte Recht
und Unrecht unterscheiden, und er wusste, dass
er nicht im Hill House schlafen durfte.
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Auf dem kleinen Messingschild an der Tür stand
der offizielle Name: »Familienzentrum Seattle«.
Doch seit fast fünfzig Jahren kannte man die In-
stitution in der Stadt nur als »Hill House«. Die
dreistöckige prachtvolle Villa aus viktorianischer Zeit hatte als einziges der wenigen Gebäude dieser Art auf dem First Hill den Vormarsch des
Fortschritts überlebt. Die meisten anderen waren
den Forderungen der modernen Medizin nach
funktionaleren Gebäuden aus Stahl und Beton
zum Opfer gefallen.
Anfang der fünfziger Jahre war das Gebäude
ziemlich heruntergekommen. Ein Wohltäter, der
anonym bleiben wollte, erwarb es, ließ die ver-
schnörkelte Fassade wieder herrichten und das
Dach neu decken. Rasen wurde gesät, kleine
Steinbänke im vorderen Garten aufgestellt und
im hinteren ein Spielplatz eingerichtet, und das
Innere das Hauses wurde zu einer modernen Kli-
nik umgestaltet.
Hill House befand sich an der Ecke von Boren A-
venue und Madison Street. Ein hoher schmiedeei-
serner Zaun und dichte Lorbeerbüsche, die ein
halbes Jahrhundert alt waren, schützten es vor
neugierigen Blicken. Zwar hatten weder die Men-
schen, die hier arbeiteten, noch diejenigen, die es aufsuchten, die Absicht, sich zu verbergen. Doch
sie hatten die dichte Hecke schätzen gelernt, die 24
für einen gewissen Abstand zu den Demonstran-
ten sorgte, von denen sie auf dem Gehsteig re-
gelmäßig angepöbelt wurden.
Vorjahren schon hatte sich diese Horde eingefun-
den. Sie drängelten und schubsten, schrien und
lärmten und versuchten, Menschen, die ins Hill
House gingen, einzuschüchtern oder sogar zu
bedrohen. Im Laufe der Zeit war die Gruppe klei-
ner geworden, und neue Gesetze verhinderten
einige ihrer extremeren Aktionen. Doch an ihren
Zielen hatte sich nichts geändert.
Im Hill House wurden umfassende Beratungen,
gynäkologische Untersuchungen, Geburtshilfe
und Kinderbetreuung angeboten. Doch die Mar-
schierer – wie die Leute auf dem Gehsteig von
den Angestellten genannt wurden – interessierten
sich nur für die ihrer Ansicht nach zutiefst unmoralische Praxis der Schwangerschaftsabbrüche.
Seit fast zwei Jahrzehnten wurden die Mitarbeiter des Hill House wechselweise angebetet und verdammt, angefleht und geschmäht. »Ich selbst
würde niemals
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