Mein wirst du bleiben /
etwas durfte nur in ihren Alpträumen geschehen. Wenn sie auf dem OP -Tisch lag. Sie tastete nach ihrem Hals, den vernarbten Verletzungen. Ihre Fingerspitzen waren kalt.
Die Bühne. Ein ewiger Traum.
Würde Harald Hofmann hier in der Gegend leben, dann wäre er zumindest für den Anschlag auf seine Frau in Verdacht geraten. Und sie hätte Zeit gewonnen, einen neuen Plan schmieden können. Sollte sie bleiben? Fliehen? Lange würde es nicht mehr dauern, bis die Polizei alles herausfand.
Ein Pärchen schlenderte Arm in Arm auf der Straße vorbei.
Den ganzen Tag hatte sie darüber nachgedacht, während sie mechanisch den Gesichtern zugelächelt und eine Schöpfkelle Teig um die andere in die schweren Waffeleisen gegeben, Puderzucker, Sirup und Marmelade über die knusprigen Herzen gegossen und diese in Servietten angerichtet hatte. Dann war diese Frau aufgekreuzt. Hanna Brock. »Einmal mit Schokoladensoße«, hatte sie gesagt und ihr eine Zwei-Euro-Münze hingehalten. Die rosa lackierten Fingernägel hatten ihr gefallen. Sie hatte gepflegter gewirkt als damals vor dem Haus, als sie diesen Ehrlinspiel gesucht hatte.
Die Beamten waren nett gewesen bei der Befragung. Netter zumindest als beim ersten Mal. Mit einer kranken Frau musste man ja vorsichtig sein.
Dass sie ihr dennoch misstrauten, mit Recht, hatte sie in dem Moment gewusst, als diese Brock vor ihr stand. Sie war also doch von der Polizei, hatte damals nicht gelogen. Und jetzt war sie als verdeckte Überwacherin eingesetzt oder wie das hieß.
Kenzo, Schokoladensoße,
dachte sie bitter. Small Talk über Teigrezepte.
Alles Lüge. Vermutlich steht sie jetzt da unten im Dunkeln und wartet, dass ich einen Fehler begehe.
Kurz war sie versucht gewesen, Ehrlinspiel alles zu sagen. Sich zu stellen. Doch konnte sie Miriam das antun? Miriam, von der sie geliebt wurde wie eine echte Mutter? Außerdem war ihr die junge Frau ans Herz gewachsen. Die Wahrheit wäre für sie beide eine Katastrophe. Miriam würde in der Psychiatrie enden. Und sie selbst …
Weiß. Schritte. Die metallene Stimme. Das Skalpell. Es schneidet durch ihren Hals. Ihre Brust. Durchtrennt die Eisenstäbe der Gefängniszelle, und ihr Blut rinnt dampfend die Pritsche hinunter, breitet sich in Millionen Rinnsalen aus, sickert über den Betonboden und verschwindet schließlich gurgelnd in dem Stehklo in der Zellenecke.
Sie lehnte ihre Stirn gegen die kühle Balkontür.
Nein!
Nicht zurück in das Elend. Auch nicht ins Gefängnis.
Wenn sie nur wüsste, was Gabriele Hofmann ihr noch hatte sagen wollen. Sie hatte garantiert nicht grundlos geklingelt und gerufen. Hatte sie geahnt … gar herausgefunden …? Und wem hatte sie noch davon erzählt? War sie verraten worden?
Sie schlug den Kopf leicht gegen das Glas. Fliehen? Bleiben?
Miriam.
Sie würde vollends verzweifeln. Für sie spielte die Mutter die Hauptrolle. Doch sie war nicht Thea. Nur eine Statistin, in Miriams Leben und in ihrem eigenen. Falsches Drehbuch. Falsche Besetzung. Lüge. Doch wenn ihre Vermutung stimmte – konnte sie Miriam dann noch vertrauen? Sich darauf verlassen, dass weiterhin alles gutging?
Miriams Sorge. Ihre zunehmenden Aggressionen, wenn sie, die Mutter, aus dem Haus ging. Das Schlafmittel. Das Grab der wirklichen Thea Roth. Miriams ständige Besuche beim Pfarrer und ihre Gebete. Wie sie manchmal sang, völlig in Trance.
Sie dachte an das, was sie in ihrem früheren Leben über psychische Störungen erfahren, die Fachbücher, die sie gelesen hatte, in der Hoffnung, zu verstehen. Damals hatte die Lektüre ihr nicht geholfen. Aber am Grab Theas hatte sie etwas anderes erkannt und endlich zugelassen: das, was das Schicksal Miriams prägte – ihre Krankheit.
Nein, es konnte nicht gutgehen.
Sie musste Gewissheit über Miriams Pläne haben!
Thea eilte ins Wohnzimmer. Blickte auf das Monster von Flügel. Die verrückten Bilder und Figuren. Auf Miriams Schlafcouch. Die Kommode. Dann riss sie die oberste Schublade auf. Sie hätte es viel früher tun sollen. Das Fotoalbum lag ganz oben. All die Bilder. Prachtvolles Haus. Rosengarten. Der Flügel und Miriams Mutter, die fast ihr Ebenbild sein könnte. Sie zerrte alles heraus. Brillenetuis, eine Bernsteinkette, einen Ehering, in den
Ulrich,
13
. Mai
1975
eingraviert war. All die Dinge, die nicht ihre waren und die Miriam ihr immer wieder hingelegt hatte. »Das gehört dir doch, Mama.« Nächste Schublade. Eine Mappe mit Stiften und vergilbtem Briefpapier. Büroklammern.
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