Mein wirst du bleiben /
zum Schluss. Geborgen sein. Das war das Ziel – fern von Kliniken oder Heimen, in denen niemand Zeit hatte. Der Gedanke gefiel ihr.
»Magst du erzählen?«, sagte Paul, und Hanna fiel wieder auf, wie achtsam die beiden miteinander umgingen.
»Ach, es waren unheimlich viele Leute da. Freunde haben den Sarg getragen, alle waren bunt gekleidet, wie sie es sich gewünscht hat. Ihre drei Kinder sind an den Händen ihrer Großeltern hinter dem Sarg gelaufen. Wir haben alle geheult.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Ich bin immer noch ergriffen. Als der Sarg in die Erde gesenkt worden ist, hat ihr Vater angefangen zu schimpfen. Er hat sich zum Nebengrab gewandt und gerufen: ›Eine Sauerei ist das, mein Kind neben diesem ungepflegten Stück Erde, diesem Haufen Unkraut.‹ Das ging ein paar Minuten so, dann ist er weinend davongegangen, seine Frau hinterher.«
»Wie furchtbar.« Hanna war trotz Moritz’ Nähe traurig.
»Nach der Beerdigung habe ich mir das Nebengrab kurz angesehen. Es sah wirklich wild aus. Ich dachte, dass vielleicht das Schild eines Gärtners darauf steht. Dann hätte ich gewusst, wer die Pflege versäumt hat. Ich hätte dem Vater gern geholfen, damit er sich mit dem Platz der Tochter versöhnen kann.«
»Aber es war kein Schild da«, schloss Hanna.
»Keine Spur. Ich habe mir aber den Namen auf dem schiefen Holzkreuz notiert. Ich musste ein paar Ranken wegziehen, um alle Buchstaben zu sehen. Vielleicht kann die Friedhofsverwaltung bei den Angehörigen nachhaken.« Sie wühlte in der Tasche ihres Kleids. »Ah, hier. Ich muss eine Kollegin bitten, wir sind ja jetzt zwei Wochen weg.« Sie legte einen Zettel auf den Tisch.
Paul nahm ihn. Und sprang auf. »Lies!«, rief er, gab Moritz den Zettel und rannte los Richtung Haus: »Komm, ich zeig es dir!«
Moritz starrte auf die Buchstaben. Dann folgte er ihm.
Dass Paul sagte: »Jetzt weiß ich, warum der Name Thea Roth von Anfang an in meinem Unterbewusstsein herumgegeistert ist«, hörte Hanna nicht mehr. Aber wenn die beiden nun beschäftigt sein würden und Lilian müde war, konnte sie ja ihr iPhone suchen.
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38
M iriam?« Sie knipste das Licht im Flur an. Keine Antwort. Sie sah in die Küche, das Wohn-/Schlafzimmer Miriams, das Bad. Leer.
Erschöpft warf Thea die hässliche Krokohandtasche auf den Küchentisch und kickte die Pumps von den Füßen. Sie war zugleich besorgt und erleichtert. Besorgt, weil es nicht zu Miriam passte, dass sie sie nicht vom Sommerfest abgeholt hatte oder wenigstens hier auf ihre Rückkehr wartete. Erleichtert, weil es hier still war. Der Lärm und die Menschen, die sich durch Musik, Gluthitze und Essensdämpfe gewälzt hatten, und das anschließende Aufräumen im Pfarrhaus hatten sie an den Rand ihres Durchhaltevermögens gebracht. Vor allem nach der letzten Nacht. Und der neuen Befragung heute im Morgengrauen.
Zum Glück war sie auf die Idee mit dem Zahlendreher gekommen. Nachwirkungen der Amnesie. Bitter lachte sie auf. Warum Miriam ihr allerdings ein falsches Todesdatum ihres Vaters genannt hatte, war ihr ein Rätsel.
Sie ging zur Spüle, neben der sich aufgerissene Zucker- und Mehlpackungen, Eierschalen und schmutziges Geschirr türmten, und füllte ein Glas mit Wasser, löste eine Aspirin darin auf und trank.
Längst hatte sie verstanden, weshalb Miriam sie aufgenommen hatte. Warum sie sie vor acht Monaten wie ein rettender Engel von der Straße aufgelesen hatte. Gemerkt hatte sie schnell, dass mit Miriam so manches nicht stimmte. Allein schon dieses Wohnzimmer … Sehen hatte sie es nicht wollen. Doch jetzt gab es kein Verdrängen mehr. Was das in letzter Konsequenz bedeutete, war abstrus und schrecklich.
Ihr Blick blieb an den schiefen Engelsfiguren auf dem Regal hängen, und sofort sah sie wieder den Hauptfriedhof vor sich. Den dreitorigen Eingang, die zwei Engelspaare darüber. Trauer und Hoffnung. Martin. Hilde. Gabriele. Um Martin tat es ihr am meisten leid. Er war ein guter Mensch gewesen. Mit ihm hätte sie es geschafft.
Dann hatte sie das Grab entdeckt. Das Kreuz. Den Namen:
Thea Roth.
Sie löschte das Küchenlicht und trat an die Balkontür. Nur die Wanduhr tickte in der Stille. Als draußen die Kirchturmuhr schlug, zählte sie mit. Zweiundzwanzig Schläge.
Sie hatte heute gut geschauspielert. Wieder einmal. Nur die Tatsache, dass Harald Hofmann in Peru lebte, die hatte sie im wahrsten Wortsinne umgehauen. Das hätte ihr auf einer Bühne nicht passieren dürfen. So
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