Mein wirst du bleiben /
Großstadtkind. »Und dein neuer Wanderführer? Kaiserstuhl und Markgräflerland?«
»Muss warten.«
Ehrlinspiel räusperte sich. In der Dachrinne trappelte ein Vogel, und raschelnd fielen Blätter herab.
»Heute Abend? Hier?« Sie berührte seine Hand, und er glaubte, dass sie jeden Gedanken, seine Enttäuschung, spürte.
»Habt ihr Reis da?«
Sie nickte. »Du kannst mich jederzeit besuchen, Moritz.«
Bei ihr kannst du immer ein Plätzchen finden.
»Ja«, sagte er. Seine Stimme klang heiser.
Mit einer Papiertragetasche in der Hand eilte er möglichst leise die Treppen hinunter und auf die Haustür zu. Vergeblich.
»Pssst, Herr Kommissar.«
Er drehte sich um und lächelte gezwungen. Der süßliche Geruch kroch aus dem Türspalt. »Frau Zenker! Hallo!«
Die Filzmaus schnüffelte demonstrativ und laut hörbar. »Gibt’s etwas Neues? Also ich meine: War sie es? Stimmt es, was in der Zeitung steht?« Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. »Wissen Sie, die ist mir ja schon immer komisch vorgekommen. Aber warum ist die Mutter nicht mehr da? Ist die auch …?« Sie tippte erneut gegen ihre Stirn und öffnete die Tür ein kleines bisschen weiter, bis die Sicherheitskette straff spannte. »Es geht mich ja nichts an, Herr Kommissar, aber die Mutter … Die war ja auch total komisch, und ich –«
»Die Damen sind ausgezogen.« Er wandte sich zum Gehen. Die Erklärung aus dem Umfeld von Tätern, dass der oder die »schon immer komisch« war … Er wusste nicht, wie oft er das schon gehört hatte. Und jedes Mal dachte er: Die Leute brauchen eine Rechtfertigung für ihre eigene Ignoranz. Oder sie wollen sich wichtigmachen.
Die Zeitungen hatten ausführlich berichtet.
Irre läuft Amok, Doppelmord und Doppelmutter
oder
Schizophrene tötet auf Gottes Geheiß,
titelten die Medien. Mr. Hair, dem knoblauchfahnenbewehrten Gelhaar-Journalisten, war es tatsächlich gelungen, ein Foto von Miriam aufzutreiben, das seither tagtäglich die Titelseiten zierte. Geschichten über Schizophrenie waren zu lesen, Stellungnahmen von Psychiatern, die sich lang und breit über multifaktorielle Ursachen und Symptome der Krankheit ausließen: genetische Disposition, zerebrale Schädigungen und psychosoziale Faktoren. Wahnhafte Personenverkennung und Beziehungswahn wurden Miriam attestiert, die Schreiberlinge spekulierten über Halluzinationen und um imperative und dialogisierende Stimmen, die Miriam hörte und Gott und Johann Sebastian Bach zuschrieb.
In der Kirche hatte es genügend Zeugen gegeben, die das Geschehen nur zu gern schilderten. Auch ehemalige Nachbarn und das Personal des Pflegeheims von Thea Roth hatten sich zu Stellungnahmen bereit erklärt und hatten von Miriams Wahn erzählt, überwacht und beobachtet zu werden, Opfer einer Verschwörung zu sein, in die sie nach und nach jeden Menschen verwickelt sah und deren Anhänger ihr die Mutter rauben wollten.
Dass die Vermutungen der Presse fast alle richtig waren, hatten weder Ehrlinspiel noch der Pressesprecher bestätigt. Auch die Sache mit Sonja Paschek wurde lang und breit durch die Nachrichten gejagt. Sie wurde als Verbrecherin beschrieben, die sich bei einer Kranken – die nun plötzlich als Opfer bedauert und nicht mehr als Täterin abgestempelt wurde – eingeschlichen hatte, um mit falschen Papieren auf deren Kosten zu leben und nebenher einen niederträchtigen Mord an ihrem Ehemann zu planen. Natürlich gab es auch kritische Stimmen, die Sonja Pascheks Handeln hinterfragten. Dieser Punkt blieb deshalb im geschützten Raum, weil der Pressesprecher Sonja Pascheks wirkliche Identität und die Tatsache, dass sie jahrelang Opfer schrecklichster Misshandlungen durch den Ehemann gewesen war, zurückgehalten hatte. Zu ihrem Schutz. Im Grunde aber spiegelte das Medienchaos den Zwiespalt, in dem auch Ehrlinspiel und seine Kollegen steckten: Wer war Opfer, wer Täter? Wo verlief die Grenze zwischen Schuld und Unschuld?
»Ausgezogen?«, flüsterte Britta Zenker jetzt und schielte das Treppenhaus hoch. »Dann sind sie also beide … im Gefängnis!«
Ehrlinspiel hob die Hand zum Abschied, doch sie nestelte bereits an der Sicherheitskette, und schon stand sie in ihrem geblümten Polyacrylkittel neben ihm und hielt ihn am Unterarm fest. »Sie dürfen nicht gehen!«
»Bitte!«, sagte er eindringlich und sah auf ihre Hand hinunter, die aussah wie gebrauchtes Butterbrotpapier und sich auch genauso anfühlte.
Doch ihr Griff wurde fester. »Sie können mich doch
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