Mein wirst du bleiben /
Küchennische in das kombinierte Wohn- und Schlafzimmer.
Sie hatte dieses Apartment gemietet, weil sie sich hier sicher fühlte. Es lag im obersten Stock des Hauses, war schlauchförmig geschnitten und hatte zwei Ausgänge. Der eine war die Wohnungstür, an der sie neben der Kette ein Zusatzschloss und verstärkte Scharniere hatte installieren lassen. Der andere war ein Notausgang. Ursprünglich für alle Bewohner als Fluchtweg gedacht, befand er sich nach einem Umbau, der aus drei großen Wohnungen sechs kleine Apartments gemacht hatte, direkt neben ihrem Bett. Die schwere Tür ließ sich nur von innen öffnen und führte auf die umlaufende Brüstung, von der aus man einen phantastischen Blick über halb Freiburg genoss – und über eine schmale Außenleiter nach unten gelangte.
Sie trat an das Fenster.
Am Tag der Schlüsselübergabe hatte sie über eine Stunde hier gestanden. Zwischen der Leere. Münsterturm, Schlossberg, die vielen Parks … Das alles hatte sie nicht interessiert. Und es interessierte sie bis heute nicht. Sie richtete ihren Blick immer nur auf die Straße. Beobachtete, was sich in der Tiefe unter ihr abspielte. Tag für Tag. Abend für Abend.
In letzter Zeit neigte sie vermehrt zu Panikattacken, sobald sie das Haus betrat. Nicht weil sie die Enge des Fahrstuhls nicht ertrug, in dem sie sich wie in einer Sardinenbüchse fühlte. Nicht weil sie glaubte, das Ding könne steckenbleiben und sie könne über Stunden qualvoll ersticken. Die Klaustrophobie begleitete sie seit frühester Kindheit – und das unfreiwillige Treppensteigen bescherte ihr wenigstens die Illusion von Fitness. Die würde ihr im Zweifelsfall jedoch kaum etwas nützen. Nein, ihre Angst war anderer Art. Sie war unberechenbar. Und sie trug einen Namen: Harald.
Gabriele suchte die Straße mit den Augen ab. Ließ den Blick über die Autos gleiten. Analysierte die Bewegungen der Menschen, verfolgte ihre Schritte, vor allem, wenn sie den kurzen Weg durch die Wiese bis zum Hauseingang nahmen. Natürlich konnte sie von hier oben niemanden erkennen. Kaum ein Gesicht vom andern unterscheiden. Aber seinen stocksteifen Gang und seine schwarzen, gegelten Haare, die würde sie sogar inmitten eines überfüllten Strands ausmachen. Und auch sein alter roter Peugeot würde ihr auffallen.
Sie zog die dichten Vorhänge zu, ließ sich schwer zwischen die abgewetzten Lehnen des Sessels sinken und schaltete den Fernseher ein. Eine Kochshow. Sie zappte weiter. Nachrichten mit einer vollbusigen Blondine. Weiter. Irgendeine Reportage in der Wüste.
Bauer sucht Frau.
Für ein paar Minuten träumte sie sich an die Seite eines gutgebauten Landwirts. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren, und mit Tieren wusste sie ohnehin nichts anzufangen. Manchmal dachte sie, dass vor ihr alles und jeder davonlief. Egal, ob auf zwei oder vier Beinen.
Gabriele schaltete den Ton aus, holte die Weinflasche vom Küchentresen und schob vorsichtig den Vorhang ein Stück zur Seite. Es war natürlich Quatsch, was sie hier tat. Kein Schwein würde von der Straße aus sehen können, ob hier oben jemand am Fenster stand. Geschweige denn,
wer
da stand. Sie war dumm. Ein plumpes, bescheuertes Trampeltier.
Oft verabscheute sie sich selbst dafür. Für ihre Feigheit. Ihre derbe Art. Ihren Zwang, pausenlos quatschen und gute Laune vorspielen zu müssen. Als sie ihm damals tagelang die Tür nicht mehr geöffnet hatte, hatte er dagegengetreten, mit den Fäusten getrommelt, bis ein Mitbewohner mit der Polizei gedroht hatte. Noch in der Nacht hatte sie ihre Koffer gepackt und sich eine neue Wohnung gesucht.
Wenn sie trank, war es besser. Der Wein machte sie müde und gelassen. Vertrieb ihre Angst. Vor Harald, ihrem Ehemann. Und davor, das alles allein durchstehen zu müssen.
Harald hatte nie einen Tropfen Alkohol angerührt. Was er tat, tat er mit klarem Kopf und Berechnung. Darin zumindest war er besser gewesen als sie.
Am Montag, als Thea Roth mit Hilde Wimmer in der Praxis gewesen war, hatte sie überlegt, die Frau auf ein Glas am Abend einzuladen. Aber dann hatte der Mut Gabriele verlassen.
Frau Roth schien ihr manchmal aus einer anderen Welt. Sie war gelassen, hilfsbereit und diskret, und im richtigen Moment verstand sie es, andere zum Lachen zu bringen. Früher, da war die Wimmer immer am Schimpfen gewesen. Niemand, der ihr die Spritze sanft genug setzte, keine, die ihren Blutdruck richtig messen konnte. Doch seit Frau Roth sie begleitete, hielt die Alte ihr Maul und
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