Mein wirst du bleiben /
ließ alles über sich ergehen. Und neulich, da hatte sie die Roth mit der jungen Mutter gesehen, die bei ihr im Haus wohnte. Sie hatte ihr den Kinderwagen geschoben. Die Junge hatte Einkaufstüten und Windeln getragen. In grellbunten Leggings hatte sie gesteckt, und ihr Ausschnitt hatte bis zum Bauchnabel gereicht. Ganz zu schweigen von diesen widerlichen Blechpickeln im Gesicht, diesen Piercings. Richtig nuttig. Fehlte nur noch, dass »Bums mich!« auf dem T-Shirt stand. Doch Frau Roth machte da keinen Unterschied. Sie war für alle da und packte zu, wenn jemand sie brauchte. Obendrein war sie schön, obwohl sie gut zehn Jahre älter sein mochte als Gabriele selbst. Sie fand immer die passenden Worte. Und sie duftete so gut!
Gabriele ließ den Vorhang zufallen und drehte sich zu dem flimmernden Fernseher, wo sich gerade ein halbnackter Kerl und eine Frau mit viel zu viel Lippenstift im Heu wälzten. Thea Roth würde so etwas sicher nie anschauen, dachte sie, schaltete das Gerät aus und öffnete eine zweite Flasche Weißwein. Der Korken fiel zu Boden. Sie kickte ihn unter einen Schrank.
Sie konnte Frau Roth unmöglich einfach so behelligen. Zwar kam sie jeden zweiten Montag mit der Wimmer in die Praxis und redete auch ein paar Sätze mit Gabriele, und das machten nicht alle, die zu Doktor Wittke kamen. Doch was bedeutete das schon? Einen Anspruch auf Freundschaft konnte sie daraus nicht ableiten. Und bestimmt hatte Roth genügend Menschen um sich, die sie glücklich machten. Auf eine frustrierte Arzthelferin hatte sie garantiert nicht gewartet.
Gabriele Hofmann schwenkte das Weinglas in der Hand. »Dann trinke ich eben mit mir selbst«, sagte sie laut. »Prost, fette, feige Gabi.« Sie fiel in den Sessel.
Über Thea Roth wusste sie nicht viel. Eigentlich gar nichts. Nicht einmal, ob sie einen Partner hatte oder gar frisch verliebt war. Alles, was Roth ihr erzählt hatte, war, dass sie mit ihrer Tochter eine Wohnung teilte und die beiden sich wohl recht gut verstanden.
»Prost, Thea.« Ohne dass sie es verhindern konnte, kullerte eine Träne über ihre Wange, und gleich darauf brach ihr der Schweiß aus. Ihr Mund wurde trocken. Da waren sie wieder! Die Anzeichen für die nächste Panikattacke. Schnappatmung setzte ein, immer schneller. Nein, sagte sie sich, nicht hyperventilieren!
Gabriele riss den Vorhang zurück und öffnete das Fenster, keuchte, doch auch draußen schien die Luft zu stehen. Sie atmete langsam ein und aus, ein und aus. Dann starrte sie in die Tiefe.
Nichts.
Zitternd kippte sie ein weiteres Glas Wein ihre Kehle hinunter. Es half gegen den trockenen Mund. Aber nicht gegen sein salziges Aftershave, das sie förmlich riechen konnte. Sie sah seine schmalen Augen. Spürte seine Faust in ihrem Gesicht. Schmeckte das Blut in ihrem Mund.
Harald hatte nicht nur ein Mal versucht, Geld aus ihr herauszuprügeln. Er war ein verdammter Spieler. Und das war er auch heute noch, da war sie sich sicher. Jahrelang hatte sie geglaubt, ihn mit Geduld und Liebe zu einem besseren Menschen machen und von seiner Brutalität erlösen zu können. Sie hatte Verständnis gezeigt. Seine Schulden bezahlt. Er war am Abend in die Selbsthilfegruppe und danach ins Kasino gegangen. Inzwischen war sie klüger. Er hatte andere Frauen gehabt. Und er würde sich auch noch ihr letztes Geld holen. Wäre sie bloß nicht so feige. Könnte sie doch endlich zur Polizei gehen und um Schutz bitten. Doch wenn er das herausfand …
Sie schluckte und ließ den Blick über die Straße wandern. Menschen gingen umher, kleine Punkte, kaum größer als ein Fliegenschiss. Niemand hob den Kopf und sah herauf. Ja, Fliegenschiss, das passt zu mir, dachte sie, und ihr Puls beschleunigte sich.
Beruhige dich! Er wird dich nicht finden. Er versucht es wahrscheinlich auch längst nicht mehr. Und woher soll er denn wissen, wo du jetzt wohnst und arbeitest?
Sie schloss das Fenster. Die Dunkelheit setzte bereits ein. Gern hätte sie sich Thea Roth anvertraut. Endlich eine Freundin gehabt, der sie sich öffnen konnte.
Beim nächsten Mal, wenn Frau Roth in zehn Tagen mit der alten Wimmer kommen würde … Dann würde sie sie einladen. Was sollte schon passieren? Sagte sie ja, dann würde auch ein zweites Treffen folgen. Und ein drittes. Sie würden im Café sitzen, plaudern, gemeinsam shoppen gehen, einander Geheimnisse erzählen. Gabriele kicherte bei dem Gedanken. Sagte Thea nein, blieb eben alles wie bisher. Sie hatte nichts zu
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