Mein wirst du bleiben /
gewesen. Er schöpfte mit dem Kaffeelöffel den Kakao von seinem Cappuccino und ließ das bittersüße Pulver auf der Zunge zergehen.
»Ist Lilian in der Stadt?«, fragte er Paul Freitag und überlegte gleichzeitig, wo Hanna gerade steckte.
Sein Kollege nickte und rührte in einem Becher italienischer Schokolade. Sein taubenblaues Hemd zeigte Bügelfalten an den kurzen Ärmeln. »Sandalen kaufen für die Mädchen. Du glaubst gar nicht, wie schnell Kinder wachsen. Und Jule weigert sich standhaft, die Schuhe von Annekatrin aus dem letzten Sommer anzuziehen.«
»Sag mal«, warf Ehrlinspiel zögerlich ein, »wenn eines deiner Kinder überfahren würde – wärst du in der Lage zu verzeihen? Oder würdest du jemanden brauchen, dem du die Schuld geben könntest?«
Gärtners Tod lag jetzt zwölf Tage zurück, und seither hatten sie sämtliche Familienmitglieder der Schweigers wiederholt überprüft: die Großeltern der toten Charlotte, ihre Eltern und den Bruder in Dijon. Sogar die Verhältnisse von Charlottes verstorbener Tante hatten sie kontrolliert. Keine Spur zu Martin Gärtner. Im Gegenteil: Die Angehörigen schienen bedrückt über seinen schrecklichen Tod. Das alles passte zu den Aussagen des Pfarrers Tobias Müller, der die Schweigers als gläubige Menschen mit Empathie und dem Wunsch nach Gewaltlosigkeit beschrieben hatte.
Freitag stützte, die Tasse in der Hand, die Unterarme auf die Bar. »Du wirst den Gedanken nicht los, dass jemand von den Schweigers hinter dem Mord steckt? Späte Vergeltung?«
»Hast du eine andere Idee?«
»Ich könnte verzeihen. Lilian auch. Sie hat als Sterbebegleiterin sowieso einen ganz anderen Bezug zum Tod. Entspannter. Manchmal bewundere ich ihre unendliche Toleranz.« Er stellte die Tasse ab und sah Ehrlinspiel lange an. »Lass es uns umgekehrt versuchen: Wie würdest du damit klarkommen, ein Kind zu überfahren?«
Sofort sah er Peters Grab vor sich. Außer seiner Familie, Lorena und in Andeutungen Hanna Brock kannte niemand seine Verstrickung in Peters Tod. Die Narben an seinem Arm hatte er stets mit einem lapidaren »Badeunfall als Jugendlicher« erklärt.
»Ich würde die Schuld ein Leben lang mit mir herumtragen«, antwortete er.
»Und du würdest wie Gärtner jede Psychotherapie ablehnen.«
»Wahrscheinlich.« Er blickte auf die Auslage mit den syrischen Sesam-Früchtekuchen, Aprikosenfingern und, ganz vorn und zum Greifen nahe,
Baklavas
– rautenförmige Blätterteigtaschen mit Honigüberzug und Mandel-Pistazien-Füllung. Ob die seine Stimmung heben würden? Er war müde, enttäuscht vom Wiedersehen mit Hanna, und beim Gedanken an die stockenden Ermittlungen schmeckte der Cappuccino schal.
Seit Anfang der Woche waren sie in einer Sackgasse nach der andern gelandet. Zuerst bei Gärtners Hausarzt Jakob Wittke.
Eine dicke, rotgesichtige Arzthelferin hatte die beiden fast überschwenglich zu ihrem Chef geführt. »Zwei Herren von der Polizei, Herr Doktor«, sagte sie in einem seltsamen Singsang zu ihm, und Wittke sah die Frau ein paar Sekunden aus kleinen Augen an. »Danke, Frau Hofmann, bitte lassen Sie uns allein.« Dann bot er ihnen Platz an.
Alles an dem Arzt schien eckig, Kopf, Kinn, die Schuhspitzen und sogar die Stimme. Seine Art aber war angenehm. Er pochte weder auf seine Schweigepflicht, noch machte er moralische Bedenken geltend, als Ehrlinspiel um Informationen zu Martin Gärtner bat. »Er war schwermütig. Depressiv zuweilen. Und eigensinnig«, sagte Wittke. »Und er hat es immer abgelehnt, Medikamente zu nehmen.« Wittke legte die Hände auf der Tischplatte locker übereinander. Sogar seine Fingerkuppen waren eckig. »Ich nehme an« – er blickte zwischen den Kommissaren hin und her –, »dass die Sektion einen Tod durch Fremdeinwirkung ergeben hat. Leider werden uns behandelnden und den Tod feststellenden Ärzten Obduktionsbefunde nicht automatisch mitgeteilt. Aber da Sie von der Polizei sind …?«
»Kennen Sie Gärtners Geschichte?«, fragte Ehrlinspiel, dem inzwischen auch Gärtners Krankenkasse bestätigt hatte, dass er eine Psychotherapie begonnen, sie aber nach Vorliegen eines Gutachtens zur Arbeitsunfähigkeit abgebrochen hatte.
Wittke lachte kurz auf. »Ich vermute, Sie wissen mehr als ich. Er hat nie von sich erzählt und kam höchstens ein- bis zweimal im Jahr. Thema war die Allergie und seine aktuelle Verfassung. Letztere war, was die physischen Aspekte angeht, hervorragend.«
Der Kriminalhauptkommissar tauschte einen Blick mit
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