Mein wirst du bleiben /
war er davongeschlurft.
Jetzt lag Martin irgendwo hier. Verscharrt, auf diesem Friedhof, auf dem jeder ihrer Schritte, der auf den Kieswegen knirschte, nur in eine neue Ungewissheit führen konnte.
Sie ging an dem Kuppelgebäude vorbei, nahm einen schmalen Weg, las die Namen auf den Grabsteinen. Fremde. Fest umklammerte sie ihre Handtasche.
Martin,
dachte sie.
Hilde Wimmer. Charlotte.
Sie stellte sich ihre Gesichter vor, ihr Lachen und die Buchstaben ihrer Namen, die jetzt in irgendeinem Himmel eingraviert waren.
Zwei Kinder kamen ihr an der Hand einer schwarzgekleideten, jungen Frau entgegen. Das Mädchen lachte und rief: »Die Oma ist in den Himmel geflogen.« Und Thea sieht Charlottes Mantel vor sich, hört Martins Stimme, wie er von dem roten Vogel erzählt, der über ihn fliegt. Sie wischt Martin die Tränen von der Wange und spürt Charlottes Schmerzen und ihre eigenen, hasst den Tod und das Leben. Sie will sterben. Deshalb ist sie hier. Sie will mit Martin sprechen, mit ihm weinen. Um ihn trauern. Ihm Lebewohl sagen. Hier, wo es ruhig ist und still, auch wenn sie ihn ohnehin nicht finden würde auf einem anonymen Gräberfeld.
Doch es war nicht nur Martin, dem sie hier nahe sein wollte. Ein letztes Mal. Sind Sie verheiratet?, hörte sie den Kommissar mit dem kantigen Gesicht und den stechenden grünen Augen, die ihren eigenen so ähnlich waren, fragen und hörte sich selbst antworten: verwitwet. Seit einundzwanzig Jahren.
Sein
Grab musste sie finden. Erst dann konnte sie Miriam glauben, dass er tot war. Was allerdings die Konsequenz davon sein würde …
Thea spürte ihren Herzschlag bis zum Hals, spürte das Pochen in den Narben. Kurz blickte sie über ihre Schulter zurück. Nichts als schwarze, rote und graue Steine, Kreuze, Figuren, Blumen, Hecken und eine einsame Schubkarre. Niemand war zu sehen. Nichts zu hören, nur das schrille Piepsen der Vögel, die von Gebüsch zu Gebüsch flatterten.
Sie hatte bei der Polizei geschauspielert. Wahrscheinlich ziemlich gut. Fast so gut wie die Trintignant in
Der Killer und das Mädchen.
Trickreich war sie gewesen, hatte erst das Opfer gegeben und dann Hilfsbereitschaft signalisiert. War Jägerin und Gejagte. Nur, dass das hier nackte Realität war und keine Krimikomödie. Es war die Tragödie ihres Lebens.
Thea blickte in den Himmel. Sie hätte gern geweint. Doch ihre Augen waren leer, ausgetrocknet wie die Welt um sie und die Natur. Automatisch setzte sie einen Fuß vor den andern, las die Namen der Toten.
Sind Sie verheiratet?
Sie ging schneller.
Er ist gestorben. An Herzlosigkeit
…
Gräberfeld für Gräberfeld irrte sie umher, studierte die Namen auf den Grabsteinen. Sie sagten ihr nichts.
Da sah sie es: Linker Hand, jenseits der Mauer aus roten Ziegelsteinen, angrenzend an den Friedhof, ragte ein großes, weißes Gebäude gen Himmel. In ihrem Kopf purzelten Bilder durcheinander, drangen in ihr Bewusstsein.
Weiße Kittel. Quietschende Schuhe. Pfefferminzatem. Brennender Schmerz, der sie wieder und wieder nicht tötet.
Sie starrte das Weiß an. Die alte Angst durchflutete sie heiß. Die Uniklinik!
Sie legte die Hand auf ihre Brust, bog rasch in einen kleinen Weg ab, rannte ziellos an Hecken, einem Pavillon und Menschen vorüber, die sich nach ihr umdrehten. Ihre Muskeln brannten, und das Grün und die Steinfiguren um sie herum begannen zu lachen, sich im Reigen zu drehen, zu spotten. »Bitte nicht«, rief sie und wusste nicht, ob sie wirklich schrie oder die Worte nur dachte. »Bitte, nur ein kleines Stückchen Leben! Ohne Gewalt. Ohne Bedrohungen.«
Hinter einer Baumgruppe ließ sie sich ins Gras fallen. Es roch nach Heu. Tief atmete sie ein und aus, schloss die Augen, ein und aus. Und da, plötzlich, tauchte eine Erinnerung auf. Kindheit. Die Zeit, die sie vermisst hatte, von der ihr auch Miriam nichts hatte erzählen können, natürlich nicht. Da war sie. »Nur ein kleines Stückchen Leben«, flüsterte Thea. Etwas von dem Leben, das mit Martin Gärtner gestorben und mit Hilde Wimmer endgültig im schwarzen Nichts versunken war.
Sie wusste nicht, wie lange sie im Gras gesessen hatte, als sie irgendwann aufstand, ein paar Schritte weiterstolperte, einem alten Paar zunickte, das Hand in Hand vor einem Steinkreuz stand und lachte, was sie nicht verstand. Vielleicht war ihr dieses Grab, vor dem sie später reglos stehen blieb, nur deshalb aufgefallen, weil es so wild aussah. Dieses Grab, dessen Kreuzesinschrift sie wieder und wieder las, bis die
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