Mein wirst du bleiben /
suchte seinen Blick, und für einen Moment waren sie wieder das eingeschworene Team, die Freunde, die sich allein durch Mimik und diskrete Gestik verständigen konnten. Miriam Roth. Die Mutter, die wegen der »alten Nachbarn« erneut Alpträume durchlitt. Die Sorge der Tochter. Die Nachbarn, die jetzt tot waren … Konnte es sein, dass Miriam Roth …?
Freitag wandte sich mit seinem warmen Lächeln an sie: »Alte Leute, ja. Die können hin und wieder ganz schön schwierig sein. Sie fordern viel und nörgeln gern.«
»Unerträglich oft, dieses Lamento.« Ehrlinspiel nickte ernst. »Es kostet Kraft und Zeit, sich um die Gebrechen anderer zu kümmern. Und ihr Alter konfrontiert uns mit der eigenen Endlichkeit. Der Tod erst recht.« Er stand auf und trat an die Balkontür, beobachtete das Licht- und Schattenspiel, das Sonne und Laub auf dem flimmernden Asphalt spielten. Sah zu den Fenstern der Villa. Kein Reflex. Dann drehte er sich um und schob die Hände in die Hosentaschen. »Ihrer Mutter könnte es auch so gehen.«
»Es geht
allen
so!« Miriam Roth verbarg die Hände unter dem Tisch.
»Kümmert Ihre Mutter sich noch um weitere alte Menschen? Obwohl« – Freitag schmunzelte –, »so alt war Martin Gärtner ja noch nicht.«
»Ich habe keine Ahnung, wie alt Herr Gärtner war, aber er schien mir eben alt. Geknickt, gebeugt.«
»Er war sechsundfünfzig. Zu jung zum Sterben.«
Sie wandte sich zu Ehrlinspiel. »Wie geht es dem Hund?«
»Prima. Er schnüffelt jetzt sozusagen im Ermittlungsteam mit.«
Ein Strahlen ging über ihr Gesicht.
»Sie haben ihn behalten? Sie sind ein guter Mensch, Herr Kommissar!«
»Nicht ich. Ein Kollege.« Er trat wieder zu dem Tisch. Hatte Miriam Roth nicht in der Nacht des zweiten Mordes aus dem Fenster gesehen?
Das Polizeiaufgebot und der Lärm waren kaum zu überhören und zu übersehen.
Hätte sie Jagger in Lukas’ Wagen bemerken müssen? War sie auf anderes konzentriert gewesen? »Um welche Alten kümmert sich Ihre Mutter noch?«
Miriam Roth sah zu den Engeln auf dem Regal. »Um keine. Jedenfalls weiß ich von keinen.«
»Um Frau Zenker vielleicht?«
Sie lachte auf. »Um die machen wir doch alle einen Bogen. Böses Weib!«
Fast hätte Ehrlinspiel gegrinst. »Ihre Mutter wird bald hier sein«, sagte er stattdessen und fragte sich, wo die seit gut zwei Stunden blieb. Er würde gleich Stefan Franz anrufen und fragen, ob er sie hierhergefahren hatte. »Danke für Ihre offenen Worte.«
Wortlos eilten sie die Treppe hinunter und setzten sich in den Wagen. Er war heiß wie das Innere eines Vulkans. Freitag trommelte auf seine Oberschenkel. »Junge Frau tötet zwei Nachbarn, weil die geschwächte Mutter sich um diese kümmert? Meinst du, das trägt als Motiv?«
»Wir hatten schon hanebüchenere Fälle.« Ehrlinspiel setzte die Sonnenbrille auf und blickte Freitag an. »Das Problem ist: Uns fehlen die Beweise.«
»Und die Einsicht in eigene Fehler.«
Ehrlinspiel verdrehte die Augen und fuhr los.
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28
Früher Nachmittag
T hea trat durch den mittleren der drei Torbögen.
Lange hatte sie davorgestanden, auf die Inschrift über dem monumentalen Eingang geblickt:
Sie ruhen in Frieden.
Hatte zu den beiden riesigen Engelspaaren hinaufgesehen, Trauer und Hoffnung, die ihre Flügel ausbreiteten.
Zwei Wege führten links und rechts einer Rasenfläche auf ein sandsteinfarbenes Gebäude mit türkisfarbener Kuppel zu, die matt in der Sonne schimmerte. Sie nahm den linken Weg, der von blühenden Rosensträuchern gesäumt war.
Nach Hause hatte sie nicht gehen können. Dorthin, wo sie Jaggers Bellen hinter der zerkratzten Wohnungstür vermisste, sobald sie das Haus betrat. Hinter dieser Tür, auf die sie jetzt, nach Martins Tod, manchmal die Hand legte, bevor sie die Treppe zu Miriams kitschig eingerichteter Wohnung hinaufstieg. Und wo jede Stufe ihr zuzuflüstern schien: Dreh um!
Jetzt war sie froh, aus der engen Straßenbahn draußen und dem monotonen Rattern entkommen zu sein, den samtartigen roten Sitzen, in deren Fasern sich der Geruch und Schmutz von Tausenden Leuten festgefressen haben musste. Fremde, wie sie. Menschen mit Geheimnissen.
Voller Trauer. Voller Hoffnung. Voller Zweifel.
Natürlich hatte es ans Licht kommen müssen, dass sie in Martins Wohnung gewesen war. Aber es war schließlich nicht strafbar, mit Nachbarn Kaffee zu trinken! Nach dem Scannen ihrer Fingerabdrücke hatte sie dem dicken Polizisten erklärt, sie gehe zu Fuß nach Hause. Mit einem »Okay«
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