Mein wundervolles Genom
auf allen Vieren fortzubewegen. »Damals dachte ich, Mutationen wären selten, aber ich stellte verblüfft fest, sobald man das Thema erwähnt, erfährt man, dass praktisch jeder ein Familienmitglied oder mehrere mit genetischen Krankheiten hat. In allen Familien gibt es viele Mutationen, und obwohl genetische Krankheiten selten vorkommen, sind die Mutationen insgesamt doch eine schwere Belastung für die Gesellschaft. Viel mehr, als man glauben würde.«
Er steckt seine Nase in einen riesigen Kaffeebecher und tippt mit der linken Hand: »Haben Sie meinen Kommentar von 2006 gelesen?«
Ich gestehe, dass er meiner Aufmerksamkeit entgangen ist, und erhalte umgehend eine Kopie via Internet. Mit einer gewissen Verwunderung lese ich den Titel: »Die Zukunft der Neo-Eugenik«. 12
»Nennen wir die Dinge doch beim Namen«, sagt Leroi ungerührt. »Moderne Gesellschaften praktizieren seit langem Eugenik. Das ist heute schon weit verbreitet, und glauben Sie mir, es wird sich noch viel mehr verbreiten.«
Was Leroi – ganz korrekt – als Eugenik bezeichnet, heißt üblicherweise »Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen«: die Abtreibung von Embryos mit genetischen oder körperlichen Defekten, die durch Gentests oder im Ultraschall entdeckt wurden. Im Jahr 2002 ließen Frauen in den G8-Ländern (den führenden Industriestaaten) ein Fünftel dieser fehlerhaften Embryos abtreiben, das macht etwa vierzigtausend Abtreibungen pro Jahr. Als Folge davon sind Erbkrankheiten seltener geworden, und bestimmte genetisch bedingte Krankheiten, die durch Mutationen bei einem einzelnen Gen verursacht werden, sterben praktisch aus. In den Vereinigten Staaten kommen beispielsweise nur noch sehr wenige Kinder mit der schweren neurologischen Krankheit Tay-Sachs-Syndrom zur Welt, und in Kanada, Australien und Europa ist die Zahl neuer Fälle von zystischer Fibrose (Mukoviszidose) erheblich zurückgegangen. 13
»Mit anderen Worten: Die Eugenik hatte bereits positive Wirkungen auf Krankheitsraten und Kindersterblichkeit. Mein Beitrag ist ein Versuch, die Frage zu stellen: Wann wird die Zeit reif sein, alle Föten auf alle bekannten Mutationen zu untersuchen?«
Der Frage liegen simple Berechnungen zugrunde. Leroi hat die Häufigkeit von Tausenden Mutationen untersucht, bei denen man weiß, dass sie zur Erkrankung führen, wenn ein Embryo von beiden Elternteilen je eine Kopie erbt. Mit den 2006 bekannten Zahlen lag das Risiko, bei einem beliebigen Embryo eine monogenetische Krankheit zu finden, bei etwa 0,4 Prozent. Oder anders ausgedrückt: ein Embryo von 256.
»Ich halte diese Zahl für ziemlich hoch«, sagt Leroi, »und ich denke, damit sind wir fast bei einer Häufigkeit, die breite Screening-Programme interessant machen würde. Ein Risiko von 1 zu 256 liegt in der Größenordnung des Risikos, mit dem Screening-Programme für Gebärmutterhalskrebs oder Brustkrebs begründet wurden. Und da wir inzwischen viel mehr Mutationen kennen, wäre die Zahl noch höher, wenn ich die Berechnung heute wiederholen würde.«
Leroi räumt ein, dass die Kosten heute noch dagegen sprechen, Zehntausende Mutationen im Screening zu untersuchen, aber er sagt auch: »Die Kosten fallen stark.«
Ich erlaube mir, auf die persönlichen Kosten hinzuweisen. Wenn man das komplette Genom eines Fötus sequenzieren oder wenigstens einen Gentest mit einem Genchip durchführen will, muss man eine Amniozentese machen lassen – mit dem Risiko einer Fehlgeburt. Aber Leroi denkt anders, er ist schon weiter. Er stellt sich vor, dass wir in Zukunft befruchtete Eizellen testen und auswählen werden, bevor sie mit einer Gebärmutter in Kontakt kommen. Dieser Vorgang heißt Präimplantationsdiagnostik und bedeutet, dass man aus jedem befruchteten Ei eines Paares, das durch künstliche Befruchtung entstanden ist, eine einzelne Zelle entnimmt und das Genom untersucht.
»Ist es unrealistisch, sich vorzustellen, dass eines Tages alle Kinder in der industrialisierten Welt im Reagenzglas gezeugt werden?«, fragt Leroi und blickt direkt in die Webcam. Ich zucke die Achseln.
»Weltweit steigen die Zahlen für die Anwendung von Präimplantationsdiagnostik steil an«, beantwortet er seine Frage selbst. Und dann blinzelt er und nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.
»Wir sprechen hier nicht von Perfektion. Nehmen wir an, es gibt acht befruchtete Eier, sie haben alle eine Menge Mutationen. Es geht darum, die Zahl der Mutationen zu begrenzen und die schlimmsten zu
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