Mein wundervolles Genom
Vorliebe für Armani-Anzüge und sein Wikinger-Aussehen. Er reiste von Kongress zu Kongress, debattierte mit seinen Kritikern und war bald für seine Hartnäckigkeit bekannt.
Inzwischen ist er über sechzig und eine majestätische Erscheinung: über einsneunzig groß, breitschultrig, weiße Haare und weißer Bart. Außerdem ist er auch noch der Nachfahre eines bedeutenden Barden aus dem 10. Jahrhundert, Egill Skallagrímsson. Ironischerweise war Egill nicht nur für seine schönen Verse bekannt, sondern auch für sein schreckliches Betragen. Wenn ihm Speisen und Getränke nicht schmeckten, spuckte der große Dichter seinem Gastgeber alles ins Gesicht, und wenn ihn jemand beleidigte, schreckte er nicht davor zurück, ihm die Augen auszustechen oder ihn auf andere Weise zu verstümmeln. Sein Nachfahre Kári Stefánsson wird heute mit Adjektiven wie »großmäulig«, »aggressiv« und »berüchtigt ruppig« belegt.
Die Homepage von deCODEme hingegen zeigt Stefánsson mit einem warmen Lächeln, das Kinn nachdenklich in die Hände gestützt. Ein netter Großvater, wäre da nicht das enge schwarze T-Shirt, das seine muskulösen Oberarme betont, und unter dem Bild der Text:
Anders als viele andere Firmen, die uns nacheifern, ist deCODEme nicht einfach nur eine Website, auf der es zufällig um Humangenetik geht. Es ist Ihr Portal zum weltgrößten und erfolgreichsten Bemühen, das ererbte Risiko für die häufigsten Krankheiten unserer Zeit zu verstehen.
Arrogant formuliert, aber im Wesentlichen korrekt.
Stefánssons Konzept hat sich als tragfähig erwiesen. In mittlerweile zehn Jahren hat deCODE Genetics Tausende isländischer Genome durchforstet, und die Forscher haben ein eindrucksvolles Arsenal genetischer Varianten identifiziert, die unseren Gesundheitszustand und das Risiko für Krankheiten beeinflussen. Aufsätze von Forschern des Unternehmens erscheinen in den angesehensten wissenschaftlichen Zeitschriften. Farmer hat mir freundlicherweise einen Stapel der jüngsten Veröffentlichungen überreicht.
Die Fachleute sind beeindruckt von den Forschungen, doch nicht alle halten es für eine gute Idee, den Konsumenten direkt Genprofile anzubieten, wie das Unternehmen es heute tut. Zu den Kritikern gehört unter anderem die britische Human Genetics Commission, die besorgt ist, gewöhnliche Menschen könnten die Informationen ohne eine professionelle Beratung nicht richtig deuten. Die Mitglieder der Kommission meinen, Tests, die einfach ein Risiko feststellen, sollten nicht direkt an Konsumenten verkauft werden. Viele Ärzte sind derselben Meinung, und auf Druck von Ärzteorganisationen verbot etwa Kalifornien 2008 Firmen die Durchführung von Gentests, wenn sie nicht von einem Arzt angeordnet waren.
Das ist der allgemeine Trend. 2009 machte deCODE Genetics eine Kehrtwende und erfand sich neu als »Diagnostikunternehmen«. NachJahren wirtschaftlicher Schwierigkeiten stellte das Unternehmen einen Insolvenzantrag, wurde aber in letzter Minute von einer Gruppe amerikanischer Investoren gerettet. Bald wird mit Genprofilen Geld verdient werden, viel Geld, denn wie Stefánsson in einer Pressemitteilung anlässlich der Entscheidung schrieb: »Weil sich der Fokus unserer Gesundheitssysteme hin zu Prävention verschiebt, werden Beurteilung und Kontrolle des individuellen Erkrankungsrisikos einen zentralen Platz in der Alltagsmedizin einnehmen.«
Wie gesagt, ich habe Kári Stefánsson vor zehn Jahren zuletzt gesehen, aber nach seiner Begrüßung zu urteilen, hat er sich nicht sehr verändert.
»Wollen Sie mich wirklich wieder mit Ihrer Gesellschaft quälen?«, fragt er und streckt mir eine Hand entgegen, ohne vom Stuhl aufzustehen oder nur den Blick von seinen Papieren zu heben. Und bevor ich antworten kann, ruft er seiner Mitarbeiterin am Empfang zu, er brauche sofort Kaffee, wenn er das hier überleben solle. Ein Klassiker aus seinem Repertoire, über den schon viele Journalistenkollegen geschrieben haben. Überraschend ist nicht seine Ruppigkeit, sondern seine Stimme – ich hatte ganz vergessen, wie angenehm sie klingt: weich, wie in Fell verpackt. Sein Englisch hat einen starken Akzent, der aber sehr charmant ist. Und mit diesem charmanten Akzent sagt er zu Farmer, als Kommunikationschef könne er bei dem Interview anwesend sein, aber er solle den Mund halten.
»Komplett halten.«
Ich sage mir, wenn ich vermeiden will, dass ich auch komplett den Mund halten muss, muss ich den ersten Schlag führen. Und so beginne ich in
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