Mein wundervolles Genom
sagt Stefánsson. »Sie könnten auch eine bilaterale Mastektomie vornehmen lassen.«
Bilaterale Mastektomie. Auf Lateinisch klingt das so neutral und harmlos. Aber will dieser Mann, der mir da gegenübersitzt, wirklich raten, mir beide Brüste abnehmen zu lassen? Sie loszuwerden im Namen der Prävention?
»Ja. Es sei denn, Sie finden das schlimmer als den Tod.«
Ich weiß nicht, ob ich es schlimmer finde. Aber den Rest des Tages geht mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf. Natürlich weiß ich, dass viele Frauen sich nach einem positiven BRCA-Test die Brüste amputieren und durch Silikon ersetzen lassen. Vor zehn oder fünf Jahren galt diese radikale Lösung noch als sehr extrem, aber inzwischen ist sie in den Vereinigten Staaten beinahe üblich geworden.
Zurück im Hotel, setze ich mich an den Computer und stoße auf Myriad Genetics, das amerikanische Unternehmen, das ein Patent für einen Diagnosetest auf BRCA-Mutationen hält. Sie schicken mir einen kurzen Fragebogen, der zeigen soll, ob der Test bei mir eingesetzt werden kann. Es wird gefragt, ob jemand in der Familie vor dem fünfzigsten Lebensjahr an Brustkrebs erkrankt ist, was ich bejahe. Weiter erfahre ich, dass ich ein erhöhtes Risiko nicht nur für Brustkrebs, sondern auch für Eierstockkrebs haben könnte. Und falls ich eine aschkenasische Jüdin sein sollte, liege mein Risiko noch einmal höher, erklärtMyriad freundlich. Wie ich inzwischen weiß, habe ich keine jüdische Abstammung, und die BRCA-Analyse von Myriad kann die Sache auf jeden Fall für mich klären, wie sie betonen: »Ihr Krebsrisiko zu kennen ist der erste Schritt, um damit umzugehen.«
Man kann anhand einer Tabelle das Risiko für BRCA-Mutationen abschätzen, und mit nur einer nahen Verwandten, die vor dem fünfzigsten Lebensjahr erkrankt ist, beträgt mein Risiko 4,5 Prozent. Das bedeutet, ich habe ein Risiko von unter 5 Prozent, Trägerin einer genetischen Variante zu sein, die mit einem 65- bis 80-prozentigen Risiko einhergeht, an Brustkrebs zu erkranken. Daraus ergibt sich wiederum ein unterschiedlich hohes Risiko, an Brustkrebs zu sterben, je nachdem, in welchem Stadium die Krankheit entdeckt und wie sie behandelt wird.
Die Frage ist, ob ein Risiko unter 5 Prozent so klein ist, dass ich es einfach ignorieren kann – denn umgekehrt liegt die Chance, dass meine BRCA-Gene vollkommen in Ordnung sind, immerhin bei 95 Prozent. Und wenn es so ist, habe ich nach meinem Genprofil von deCODEme ein Risiko von unter 8 Prozent, einmal an Brustkrebs zu erkranken, weil ich glücklicherweise bestimmte andere Varianten nicht besitze.
Aber wäre es andererseits nicht gut, ein für alle Mal die Unsicherheit auszuräumen, ob der schlimmste Fall eintreten könnte?
Nur ein weiterer Test.
Ich muss darüber nachdenken.
In den nächsten Tagen überlege ich und wäge alle Aspekte eines weiteren Gentests ab. Was nützt ein Genprofil? Bei kritischer Betrachtung könnte man sagen, dass es trotz aller mehr oder weniger transparenten Risikokalkulationen nichts weiter leistet, als einen daran zu erinnern, dass man nicht glauben sollte, man sei gesund, nur weil es einem gutgeht. Tatsächlich sind »Gesunde« nur Patienten, die noch nicht diagnostiziert wurden. Und mit diesem Wissen im Hinterkopf wartet man einfach ab, bis man krank wird, oder?
Ein kleines Heer von Ethikern und Sozialwissenschaftlern lässt immer mal wieder verlauten, ganz normale Menschen hätten keinen Nutzen vonall den neuen Gentests. Ganz normale Menschen kennen einfach die Prozentzahlen nicht, die Kári Stefánsson und seine Leute im Kopf haben, und die Informationen aus den Tests beunruhigen sie. In der Folge laufen sie dauernd zum Arzt und belasten ein sowieso schon überlastetes Gesundheitssystem noch weiter. Sie haben mehr Sorgen und Stress und leben ein weniger glückliches und deshalb vielleicht kürzeres Leben.
Auch viele Meinungsmacher und Kommentatoren sind von den neuen Möglichkeiten nicht überzeugt. Die britische Journalistin Camilla Long von der Sunday Times etwa hat in einem langen Artikel leidenschaftlich dafür plädiert, Konsumenten den Zugang zu Dienstleistungen der Gentestindustrie zu verbieten. Im Hinblick auf die Erkrankungswahrscheinlichkeiten fragt sie: »Will jemand, der bei Verstand ist, dieses Wissen? Man kann sich fast nicht vorstellen, wie sich eine solche Damokles-Diagnose auf das Leben eines Menschen auswirkt.« Und für die Gesellschaft zieht sie das düstere Fazit: »Die Kosten für unsere
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