Mein wundervolles Genom
kollektive geistige Gesundheit sind unkalkulierbar.« 4
Tatsächlich klingt es logisch, dass die Menschen sich belastet fühlen könnten, aber ich glaube nicht, dass es so ist. Ich fühle mich jedenfalls nicht belastet. Mit einigem Abstand zu meinem Ausflug nach Reykjavik stelle ich fest, dass die Erkenntnisse von deCODEme nicht den Hypochonder in mir ermutigt haben. Ich sitze nicht da und brüte darüber nach, dass mir womöglich wegen AVK beide Beine amputiert werden müssen oder dass ich ein Glaukom entwickeln und blind werden könnte. Das Risiko besteht, natürlich – und es ist sogar relativ hoch –, aber es ist da, egal, ob ich es beziffern kann oder ob ich in ungetestetem Unwissen herumlaufe. Alles in allem hat sich mein Grad an Besorgnis und Angst wegen Krankheit und Tod nicht nennenswert erhöht.
Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob genetische Voraussagen die Menschen nervös machen oder nicht. Manche werden sie ruhig aufnehmen, andere werden die Nerven verlieren, wenn sie von einem leicht erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erfahren. Die Reaktion hängt mehr von der individuellen Einstellung und dem Charakter ab als von der Information selbst.
Die große Frage ist natürlich, ob ich überhaupt etwas ändern werde, ob ich etwas in meinem Leben anders machen werde, wenn ich dieses konkrete, fassbare Wissen über mein Genom besitze. Sehe ich mich mit anderen Augen? Habe ich Einfluss auf meine Zukunft bekommen?
Vielleicht, aber nicht in dem Sinne, dass ich ab sofort drei Stunden pro Tag trainieren oder mir die Brüste abnehmen lassen werde, wie Stefánsson vorgeschlagen hat. Es ist eher so, dass ich mich präsenter in meiner Biologie fühle. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, dass ich mich mehr als Organismus fühle.
Ich weiß, dass das seltsam klingt. Besonders weil sich mit dem Begriff Organismus die Assoziation von etwas verbindet, das auf der Leiter der Evolution weiter unten steht – Mikroben, Würmer, so etwas. Menschen sind Personen oder Individuen, keine Organismen. Aber es ist, als hätte ich einen besonderen Einblick in mich erhalten, eine Röntgenaufnahme, die nicht die Person zeigt, sondern ein wohlorganisiertes Gewimmel von miteinander kommunizierenden Zellen.
Der Gedanke, ein Organismus zu sein, ist überraschend angenehm, fast beglückend. Es ist, als würde mir die Last genommen, ein Individuum zu sein, weil ich mich aus einer viel größeren Perspektive betrachte. Mein Genprofil hat mir Einblick in manche Stärken und Schwächen meines Organismus gegeben und gleichzeitig die Knöpfe gezeigt, an denen ich drehen kann.
Moment mal, werden Kritiker einwenden. Wir alle wissen, dass wir unsere sterbliche Hülle pflegen müssen, und wir können die üblichen Gesundheitsratschläge im Schlaf herunterbeten. Was soll daran neu sein?
Zugegeben: Intellektuell wissen wir Bescheid. Aber das Gefühl, ein Organismus zu sein, ist viel stärker und macht sich viel intensiver als Wunsch bemerkbar, sich selbst zu formen. Als Wunsch, etwas zu tun. Es ist nicht nur, dass ich in dem Wissen, ein um 30 Prozent erhöhtes Glaukomrisiko zu haben, einen Termin mit dem Augenarzt vereinbart habe, um meinen Augeninnendruck messen zu lassen. Ich werde mich darüber hinaus künftig nicht mehr nur widerwillig ins Fitnessstudio schleppen, und die Trainingsgeräte dort werden mir nicht mehr die Laune verderben, sondern sie heben. Auf dem Laufband stelle ich mir die komplizierten biochemischen Prozesse vor, die in meinen Beinmuskeln ablaufen, wie all diese großartigen chemischen Stoffe in meinen Blutkreislauf gepumpt werden und wie sie schließlich mein Gehirn erreichen, wo sie meine Stimmung beeinflussen, meine Gedanken und letztlich meine Sicht auf die Welt.
Mein Genprofil von deCODEme hat ein kleines Fenster zu meinem Körperinneren geöffnet, und es ist wie ein Blick auf eine ganz neue Dimension: Ein seltsames inneres Universum tut sich auf und verwandelt sich in körperliche Erscheinungen, die wir spüren und messen können. In einer Zelle im Auge kommt ein winziges Stück Information ins Spiel, und auf einmal steigt der Druck, und die Sehschärfe nimmt ab. Oder ein anderer genetischer Schnitzer bewirkt, dass die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse träge werden und nicht mehr genug Insulin produzieren – die Folge ist Diabetes.
Ich will mehr davon und vertiefe mich in meine Rohdaten. Mit dem speziellen Genom-Browser von deCODEme stöbere ich in einer Million SNPs herum und
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