Mein wundervolles Genom
gewöhne mich langsam an ihre seltsamen Bezeichnungen, beispielsweise rs4610 (T,C). Die Zahl mit dem Präfix rs gibt ihre Position auf einem bestimmten Chromosom an, dann folgen die beiden Basen, die man an dieser Position von Vater und Mutter bekommen hat.
Aber mal ernsthaft: nur fünfzig Krankheiten bei einer Million genetischer Marker? Da muss noch mehr möglich sein.
Nachdem ich ein paar lange Abende auf diese Weise verbracht habe, finde ich etwas, das mir weiterhilft. Promethease heißt es. Es ist ein kostenloses Computerprogramm, das Werk zweier idealistischer Amerikaner, Michael Cariaso und Greg Lennon, das Informationen aus den Rohdaten von deCODEme extrahieren kann, indem es meine individuellen SNPs mit den jeweils dazu vorliegenden wissenschaftlichen Studien verknüpft. Cariaso und Lennon haben das Programm 2007 geschrieben und dann frei im Internet zur Verfügung gestellt. Da ist es immernoch und entwickelt sich parallel zu den Forschungen weiter dank einer Funktion, die permanent alle großen wissenschaftlichen Datenbanken nach neuen Artikeln durchsucht, die mit SNPs zusammenhängen. Jedes Mal, wenn eine neue Verbindung zwischen Genvarianten und Merkmalen veröffentlicht wird, nimmt das Programm sie in seine Sammlung auf.
»Wir haben mindestens zehntausend Zugriffe pro Monat«, erzählt mir Cariaso über Skype aus Amsterdam. »Es ist nicht schwierig, große Mengen genetischer Daten zu bekommen. Etwas ganz anderes ist es, die Informationen zu interpretieren und in die Hände eines einzelnen Kunden zu geben. In Zukunft wird das für die Wettbewerbsposition eines Unternehmens, das genetische Analysen verkaufen will, entscheidend sein.«
Das klingt überzeugend. Ich jedenfalls habe meine Daten von dem isländischen Server geholt und an den amerikanischen Server geschickt, auf dem Promethease liegt. Dann habe ich einen Bericht bekommen, der nun auf meiner Festplatte ruht. Statt der rund fünfzig Krankheitsrisiken, über die deCODEme mich informiert hat, sind darin über viertausend spezifische SNPs aufgelistet. Die vielen Varianten sind in eine Handvoll Rubriken gruppiert: »Die interessantesten SNPs«, »Medizinisches«, »Krankheiten« und »Ihre ganz besonderen SNPs«. Es gibt außerdem eine Sammelrubrik: »Noch komplizierter«.
Cariaso hat mir großzügig Hilfe bei der Durchsicht meines Berichts angeboten. »Ich sehe auf einen Blick, ob da etwas Interessantes ist, und ich verspreche Ihnen, dass ich die Datei anschließend sofort vernichte«, versichert er mir.
Ich stelle fest, dass ich im Umgang mit meinen Genen nicht schüchtern bin. Tatsächlich habe ich keinerlei Bedenken, dass ein vollkommen Fremder sie sich auf seinem Computer anschaut, ohne dass ich danebenstehe. Es gehört zu den Paradoxien mit dem Genom: Auf der einen Seite enthalten meine Gene alles, was es über mich zu wissen gibt; auf der anderen Seite sind sie so abstrakt, dass sie nicht sehr privat erscheinen.
»He, Lone! Sie sind die erste rs8177374 (T,T), die ich je gesehen habe!«, schreibt Cariaso sehr schnell in einer E-Mail. Beinahe erröte ich. Offenbar sind nur zwei Prozent der Kaukasier mit T,T an dieser Stelle gesegnet. Aus der Literatur geht hervor, dass das eine sehr gute Sache ist.
»Eine nützliche Mutation, die mit Resistenz gegen verschiedene Krankheiten wie invasive Pneumokokken-Infektionen, Bakteriämie, Malaria und Tuberkulose verbunden ist«, sagt er.
Sehr gut.
»Ansonsten ist Ihr Bericht ziemlich unauffällig«, fährt Cariaso fort, »aber denken Sie daran: Langweilige Gene sind gute Gene. Wenn etwas Interessantes dabei ist, bedeutet es Ärger.«
Hervorragend. Ich mache mich selbst über die Promethease-Auswertung her. Als Erstes nehme ich mir die Kategorie mit den SNPs vor, die etwas mit Krankheiten zu tun haben, und schon bald stoße ich auf rs2217262. Offenbar spielt es bei Autismus eine Rolle. Fast neun von zehn Kaukasiern haben auf dem Gen DOCK4 an dieser Stelle zwei A, der Rest hat ein C oder ein A oder zwei C. Ich gehöre zur letztgenannten Gruppe, und bei uns ist einer Untersuchung zufolge das Risiko für Autismus um die Hälfte geringer. Wie es in dem Artikel in Wikipedia heißt, zu dem man über einen Link von Promethease direkt gelangt: »Es ist eine protektive genetische Variante.«
Nun, mit meinen dreiundvierzig Jahren muss ich mir um Autismus keine Sorgen machen, aber sollte ich doch noch Kinder bekommen, wäre meine protektive DOCK4-Variante beruhigend. Okay, das ist akademisch. Relevanter für
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