Mein wundervolles Genom
haben viele negative Lebensereignisse mit Beziehungen zu tun – ganz besonders bei Paaren. Wir sind nicht nur Opfer, wir sind Komplizen. Wir haben Langzeitbeobachtungen mit Neurotikern durchgeführt, die diesen Punkt belegen. Dabei haben wir eine Gruppe von Menschen über viele Jahre beobachtet, und wir konnten zeigen, wenn man misst, wie neurotisch jemand ist – das heißt, wie nervös, wie sensibel und so weiter –, dann kann man künftige Lebensereignisse voraussagen, die persönliche Beziehungen betreffen und die Fähigkeit, sich ein soziales Netz aufzubauen.«
Je neurotischer, desto mehr Probleme, desto kleiner das Netzwerk und desto größer das Risiko für Depression und Angststörungen.
»Als wir unsere Ergebnisse zu publizieren begannen, bekamen wir viel Widerspruch von Kollegen in der Psychiatrie. Es konnte einfach nicht wahr sein! Aber lustigerweise war es für die Evolutionstheoretiker vollkommen einleuchtend. Überall in der Natur verändern Gene ihre Umwelt. Genetisch verschiedene Webervögel weben unterschiedliche Nester und locken so unterschiedliche Arten von Weibchen an. Und bestimmte Gene in einem Erkältungsvirus reizen die Schleimhäute in unserer Nase, sodass wir niesen und die Virusgene verbreiten.«
Es erinnert mich an eine Kolumne auf der Website der New York Times mit der Überschrift »Ausgeraubt durch unsere Gene?«. 18 Die Autoren hatten sich wahrscheinlich von dem Kriminologen Kevin Beaver von der Florida State University inspirieren lassen, der behauptet hatte, dass es teilweise erblich sei, Opfer eines gewalttätigen Straßenraubs zu werden. Wie bitte? Ist es nicht einfach Pech, wenn man Opfer eines Verbrechens wird? Aber nach Auswertung der Daten aus einer großen Zwillingsstudie, bei der junge Amerikaner über einen längeren Zeitraum in den 1990er Jahren beobachtet wurden, kam Beaver zu dem Ergebnis, dass beinahe die Hälfte der Varianz dabei, ob jemand ausgeraubt wurde oder nicht, auf genetische Faktoren zurückzuführen war. 19
Bei näherer Betrachtung ist das gar nicht so absurd, wie es klingt. Beavers Hypothese lautet, dass die genetischen Effekte indirekt wirken. Sie tragen zur Ausbildung des Verhaltens bei, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, einem Verbrecher über den Weg zu laufen – vielleicht, indem man Orte aufsucht, wo sich häufiger Kriminelle herumtreiben.
»Dieser Effekt erklärt wahrscheinlich auch, warum es so aussieht, als würde die Erblichkeit mentaler Merkmale mit zunehmendem Alter stärker hervortreten«, sagt Kendler. »Wenn die Kindheit vorbei ist, haben wir mehr Wahlfreiheit, dahin zu gehen, wohin wir wollen, und die Genetik spielt bei unseren Präferenzen eine Rolle.«
Ist das nicht wie bei der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt? Wenn Gene auch dazu beitragen, unsere Umwelt zu formen, bleibt dann nicht immer weniger Raum für den freien Willen?
Kendler lehnt sich zurück und lacht verschmitzt. »Ich habe viel über die Sache mit dem freien Willen nachgedacht, und ich glaube, Sie tappen in eine klassische Falle«, entgegnet er. »Die Menschen denken immer, Genetik und Erblichkeit bedeuteten Determinismus, Umwelteinflüsse hingegen nicht. Aber betrachten Sie es einmal so: Wenn der Eiweißgehalt in der Nahrung in Ihren ersten drei Lebensjahren einen Einfluss auf Ihr Gehirn hat und damit auf Ihr intellektuelles Potenzial und Ihre Persönlichkeit, ist das dann nicht auch ein Verlust an freiem Willen?«
Seine Frage ist natürlich rhetorisch.
»Wenn wir akzeptieren, dass unser Verhalten vom Gehirn kommt und dass unser Gehirn ein biologisches System mit Ursachen und Wirkungen ist, dann ist das tatsächlich das einzige Problem, mit dem wir uns befassen müssen. Egal, ob Depressionen zu 60 Prozent erblich sind oder zu 90 Prozent, sie kommen vom Gehirn. Es gibt biologische Grenzen. In welchem Ausmaß diese von den Genen errichtet werden oder von der Umwelt oder von beidem, ist dann unwichtig.«
Unser Gespräch hat eine etwas entmutigende Wendung genommen. Es ist schwer, nicht mutlos zu werden, wenn das Thema Willensfreiheit auftaucht, weil Diskussionen darüber anscheinend immer fruchtlos bleiben. Rein subjektiv empfinden wir alle, dass wir einen freien Willen haben. Wir könnten ja schließlich in der Happy Hour »Nein« zum dritten Glas Wein sagen, und wir könnten uns an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn halten. Alles eine Sache der freien Entscheidung, nicht wahr?
Aber wenn man darüber nachdenkt, wird klar, dass wir uns
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