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Mein wundervolles Genom

Mein wundervolles Genom

Titel: Mein wundervolles Genom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lone Frank
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etwas vormachen. Offensichtlich ist niemand wirklich frei im klassischen Sinn: frei, in jeder Situation eine Wahl zu treffen. Diese Freiheit existiert nicht. Wir alle stecken in einem Käfig, dessen Stäbe unser Wesen, unsere Geschichte und unsere Erfahrungen sind. Die Herausforderungbesteht darin, herauszufinden, ob und wie man den Käfig erweitern kann. Könnte das genetische Wissen die Art, wie wir über uns denken, verändern? Gewinnen wir nicht letztlich sogar ein bisschen mehr Willensfreiheit, wenn wir unsere biologischen Begrenzungen kennen?
    »Das ist natürlich eine sehr interessante Frage«, sagt Kendler nur. Mir ist nicht ganz klar, ob Sarkasmus in seinem Tonfall mitschwingt, aber zum Glück spricht er ernst weiter.
    »Es sagt auch viel über unser Selbstbild und die Neigung der westlichen Kultur aus, Biologie mit Verantwortlichkeit zu verknüpfen. Aber ob wir das Wissen über biologische Kausalität mit dem Konzept des freien Willens verbinden können, ist ganz und gar keine naturwissenschaftliche Frage. Es ist ein philosophisches Problem. Sobald die Biologie ins Spiel kommt, geht es um die allgegenwärtige Vorstellung, dass wir uns selbst formen können, dass wir aus einem gestressten, unausgeglichenen Menschen einen vollkommen ruhigen machen können, wenn er nur einen Kurs in transzendentaler Meditation absolviert. Oder dass man aus einer introvertierten Person, die zur Nabelschau neigt, mit ein bisschen Therapie und positivem Denken eine überschwänglich extravertierte machen könnte.«
    Kendler schüttelt leicht den Kopf.
    »Der Gedanke, das wir alle gleich sensibel sind, ist unrealistisch. Unser Erleben ist ein subtiles, vielschichtiges System, und wir kommen mit sehr ausgeprägten Dispositionen hinsichtlich intellektuellen Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen zur Welt. Diese Dispositionen können wir nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussen.«
    Er schweigt, dann heitert sich seine Miene auf.
    »Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, an dem sich das ganz gut zeigen lässt. Nehmen wir ein Kind mit einer milden ADHS und Verhaltensproblemen. Sie wissen schon, ein Kind, das impulsiv ist, nicht stillsitzen kann und so weiter.«
    Ich versuche mir den hypothetischen Lümmel vorzustellen. Dabei fällt mir Niels ein, eine Sandkastenbekanntschaft. Er war auffallend unruhig, biss und trat um sich und schmiss eine Schere nach Leuten, biser schließlich aus dem Kindergarten genommen wurde – wohl ein archetypischer Fall von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Ich hörte, dass er später experimenteller Psychiater wurde.
    »Manche Eltern können solche Kinder in eine positive Richtung lenken, indem sie eine Art Stoßdämpfer für ihre Neigungen abgeben. Solche Eltern reduzieren den erblichen Anteil. Aber andere Eltern verstärken ihn. Die meisten Menschen sind mit der Komplexität eines vielschichtigen Problems überfordert. Ich erlebe das, wenn ich Vorträge zu diesem Thema halte. Es gibt ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich zurückzulehnen und zu sagen: ›Es sind meine Gene, ich kann nichts dafür.‹«
    Tatsache ist, dass wir, wenn wir mehr über Ererbtes wissen, auch erfahren, wie wir eine Umgebung gestalten können – welche »Intervention« erforderlich ist, um es im therapeutischen Jargon auszudrücken –, um unserer genetischen Disposition einen Schubs in die richtige Richtung zu geben.
    »Das stimmt zum Teil«, sagt Kendler.
    Was tut man nun also bei einer Person mit einer frühen Neigung zu Depressionen, nur mal ganz hypothetisch gefragt?
    »Relativ wenig, würde ich denken, aber ich kenne die Literatur zu Interventionen nicht gut.«
    Weiß man wenigstens, welche Umgebung und welche Umstände sich depressive Menschen typischerweise aussuchen?
    »Man weiß ein bisschen darüber, indirekt. Wir haben Zwillingsstudien durchgeführt, die Neurotizismus untersuchen als einen Zug, der eng mit der Anfälligkeit für Depressionen verbunden ist. Neurotizismus erhöht das Risiko, weniger soziale Unterstützung zu haben, weniger Kontakte, generell häufiger negative Ereignisse zu erleben. Es deutet mit anderen Worten darauf hin, dass der Teil der Gene, der das Depressionsrisiko erhöht, den Effekt hat, dass Sie dazu neigen, Schwierigkeiten mit Beziehungen zu haben.«
    Aber, das betont er gleich, dafür gebe es keinen Gentest.
    »Wir befinden uns in einem Stadium, in dem einige Forschungserkenntnisse dazu vorliegen – interessante Erkenntnisse übrigens –, abersie reichen noch nicht aus, um

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