Mein wundervolles Genom
eine Schlussfolgerung ziehen zu können.«
Doch die Menschen wollten Schlussfolgerungen, halte ich ihm entgegen und verabschiede mich von meinen Erwartungen, ein paar echte Antworten zu bekommen. Denkt er nicht, dass die Genetik nun, da sie für jedermann zugänglich ist, das menschliche Bedürfnis nach Vorhersagen reizen wird? Wir wollen so dringend dieses eine kurze Leben optimieren, das wir haben. Wir wollen unbedingt Leitlinien, die einleuchtend sind und in gewisser Weise garantieren, dass wir unser Potenzial maximal ausschöpfen. Meint er wirklich, dass es niemals etwas Sicheres geben wird, nie Aussagen auf solidem wissenschaftlichen Grund?
»Ich sage«, erwidert Kendler langsam, »dass es schwierig ist.«
Mehr Antworten bekomme ich nicht. Sue Kendler hat selbstgebackene Schokokekse und Obst auf den Tisch gestellt, und ich setze mich unter das Selbstporträt der Tochter. Die Katze blickt mich mit ihren traubenartigen Augen vom Kamin her finster an. Wir plaudern über dies und das, bis ich finde, dass es an der Zeit ist, in mein Hotelzimmer in Washington zurückzukehren. Ich frage, ob ich ein Taxi bestellen kann, das mich zum Bahnhof bringt. Die Kendlers sehen bestürzt aus.
»Zug? Es fährt kein Zug mehr, es ist beinahe neun Uhr.« Sue erklärt, dass Züge von und nach Richmond nur bis zum Nachmittag verkehren. Ich begreife es nicht. Washington ist die Hauptstadt des Landes, die Zugfahrt dauert nur etwas über eine Stunde – wie ist es möglich, dass man hier abends nicht mehr wegkommt?
»Wir sind nicht in Europa«, meint Kendler mit einem Lächeln. Sue bietet mir sofort an, bei ihnen zu übernachten. Zwei ihrer Kinder verbringen gerade die Ferien zu Hause und haben die Gästezimmer belegt, aber ich kann auf einem bequemen Sofa schlafen.
»Bitte, bleiben Sie und fahren Sie morgen zurück.«
Ihre Einladung macht mich verlegen, ich kann sie nicht annehmen. Ich murmele, dass ich mir ein Hotel suchen werde, die Diskussion endet damit, dass die Kendlers mich zum Holiday Inn von Richmond fahren. Es liegt in der Nähe, und der Zimmerpreis sprengt mein Budget nicht. Das Hotel ist ein trauriger Ort: eines jener zweistöckigen Motels, wo alle Türen auf einen Laubengang aus Beton hinausgehen. Alles ist aus Ziegelsteinen und avocadogrünem Holz, es erinnert mich an einen billigen Schlafsaal im Studentenwohnheim um 1970.
Ich bin so ziemlich der einzige Gast und verbringe den Rest des Abends damit, dass ich in meinem Zimmer sitze, Wasser aus der Leitung trinke – das nach Chlor schmeckt – und mich frage, warum um alles in der Welt ich die Gastfreundschaft der Kendlers nicht angenommen habe. Es ist verrückt, hier allein in diesem düsteren Zimmer mit geschmacklosen Tapeten und schlechtem Fernsehprogramm zu hocken. Stattdessen hätte ich interessante Menschen näher kennenlernen können, und vielleicht hätte ich noch mehr über die komplizierten Verbindungen zwischen dem menschlichen Geist und der DNA erfahren. Deshalb bin ich ja den weiten Weg von Europa hergekommen.
Möglicherweise ist das genau die Art von Situation, von der Kendler gesprochen hat. Es sind nicht die unglücklichen Umstände, sondern ich bin es , die Neurotikern, die aktiv Situationen sucht und so die eigene Umwelt formt. Ich isoliere mich und langweile mich – und damit bereite ich den Boden, um in Melancholie und Selbstmitleid zu versinken, unter Umständen sogar in eine Depression – wenn ich besonders viel Glück habe. Vielleicht liegt es am gechlorten Wasser oder an der Ruhe, aber jetzt sehe ich mich selbst so, wie ein Verhaltensgenetiker mich sehen würde: als das Ergebnis einer langen Folge von Umständen, die ich mir selbst ausgesucht habe.
Schon als rotznäsiges Kind habe ich mir im Umgang mit anderen das Leben schwer gemacht. Zum Beispiel fuhr ich immer gern zu meinen beiden Cousinen. Sie wohnten weit weg, waren ein paar Jahre älter als ich und deshalb unendlich faszinierend. Und was tat ich, wenn ich endlich dort war und man ihnen gesagt hatte, sie sollten auf mich aufpassen? Ich ließ sie geradewegs wissen, dass ich nur Schach spielen wolle, was sie nicht interessierte. Ihre Antwort bestand darin, dass sie mich in der Gästetoilette einsperrten und mir mitteilten, da müsse ich bleiben,bis sie mich wieder herausließen. Dort saß ich dann, bis zufällig ein barmherziger Erwachsener vorbeikam und mich befreite.
Auch später wurde ich regelmäßig ins Klo verbannt, bildlich ausgedrückt, aber ich habe nie wirklich darüber
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