Mein wundervolles Genom
aus und schleudert die Dose lässig quer durch das Zimmer – genau hinein in den Abfalleimer.
»Sie führen Untersuchungen überall in den USA durch. Aber weil Sie Epidemiologe sind und nicht Biologe, betrachten Sie einen Autounfall als eine feste Sache und übersehen, dass es tatsächliche viele verschiedene Arten von Unfällen gibt. In Florida, wo das Durchschnittsalter der Autofahrer bei fünfundsechzig liegt, sind ältere Fahrer das Problem; in Seattle ist es das schlechte Wetter, ganz im Süden der Alkoholspiegel, und oben im Nordosten werden Autounfälle dadurch verursacht, dass die Freundin daneben sitzt und den Fahrer anschreit. Im Nordwesten verschlimmern schlechte Reifen die Wirkung des Wetters noch weiter, hingegen schützen schlechte Reifen Sie im Süden, wo die Straßen heiß und klebrig sind. Was an einem Ort ein Risikofaktor ist, kann an einemanderen Ort ein Schutzfaktor sein. Und was kommt heraus, wenn Sie auf diese Weise fünfhundert verschiedene Faktoren betrachten?«
Ich zucke die Achseln.
»Dass die Hauptursache für Autounfälle in den Vereinigten Staaten ein Führerschein ist. Der Führerschein ist die einzige Gemeinsamkeit, die Sie bei allen Beteiligten finden. Aber das hat keinerlei prädikative Kraft! Genau das liefern Genstudien für Verhaltensmerkmale und psychische Eigenschaften. Bei Diabetes ist es genauso. Da sagen sie immer, sie hätten so viel Erfolg, aber in Wahrheit haben sie gar keinen. Mit ihren genetischen Risikofaktoren können sie vier Prozent der individuellen Varianz erklären. Vier Prozent!«
Weinberger hat gerade die umstrittene Depressionsstudie seines Kollegen Caspi rehabilitiert. Aber ich würde gerne wissen, welche anderen Erkenntnisse es zum Zusammenhang von Genen und Verhaltensmerkmalen gibt. Sprechen wir hier über eine einzelne Schwalbe?
»Wir haben robuste Daten zu Wirkungen auf Gehirnsysteme. Und Gehirnsysteme sind die Grundlage des Verhaltens. Aus vielen Studien wissen wir, dass neben vielem anderen SERT einen Einfluss darauf hat, wie sensibel Ihre Amygdala ist. Es ist eine Grundlage für emotionale Beteiligung; damit Sie Bedrohung fühlen können oder Angst, brauchen Sie die Aktivierung der Amygdala. Bestimmte Reize – Töne, fremde Gesichter und so etwas – müssen vorhanden sein, damit Ihr Gehirn stimuliert wird, ein bestimmtes Verhalten zu produzieren. Gene sind biologische Werkzeuge, die bei der Konfiguration Ihres Nervensystems zum Einsatz kommen. Sie beeinflussen Moleküle und Zellen und damit die gesamte Struktur des Gehirns, und die Struktur des Gehirns und seine Synapsen entscheiden darüber, wie Sie Ihre Umwelt erleben und wie sie sich für Sie anfühlt.«
Bei dem kleinen Vortrag haben Weinbergers Wangen Farbe angenommen, er wirkt zehn Jahre jünger. Seine Stimme klingt warm und gar nicht mehr kratzig. Ich weiß auch warum. Wir sind an dem Punkt angekommen, an dem er erklären kann, wie man über diese verachteten Assoziationsstudien hinausgehen kann.
»Wir müssen uns darauf konzentrieren, wie das Gehirn funktioniert«, sagt er triumphierend.
Es ist nicht zu bestreiten, dass faszinierende Erkenntnisse herauskommen, wenn man sich anschaut, wie das Gehirn funktioniert. Zum einen hat Weinbergers Forschungsgruppe in einer Studie, die demnächst veröffentlicht wird, die Gehirne von hundert durchschnittlichen Freiwilligen untersucht, um zu sehen, ob das COMT-Gen mit bestimmten Merkmalen des Gehirns zusammenhängt. Sie stellten fest, dass Personen mit zwei Kopien der Met-Variante eine größere Synapsendichte zwischen den Nervenzellen im vorderen Teil des Gehirns besitzen als andere. Weinberger glaubt, dass diese zusätzlichen Synapsen die Konzentrationsfähigkeit erhöhen – das könnte erklären, warum diese Personen bei Gedächtnisaufgaben besser abschneiden. Aber die Sache hat einen Preis: »Es fällt ihnen schwerer, die Aufmerksamkeit schnell zu verlagern, und wahrscheinlich haben sie auch eine Neigung, verstärkt über Gedanken zu brüten, auch über traurige und negative Gedanken«, erklärt Weinberger.
Ein weiteres augenfälliges Beispiel, wie kleine genetische Eigenheiten die Funktionsweise des Gehirns erheblich verändern können, stammt aus Forschungen, die an der University of California in Los Angeles unter der Leitung der Psychologen Naomi Eisenberger und Matthew Lieberman durchgeführt wurden. Die beiden, ein Ehepaar, untersuchen die Neurologie sozialer Beziehungen und haben eine Hypothese, warum Menschen mit zwei Kopien der
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