Mein wundervolles Genom
Tränensäcke unter seinen Augen. »Auf jeden Fall bin ich überzeugt, dass es falsch ist, eine Variante menschlichen Verhaltens als Krankheit einzustufen.«
Als ich aus der riesigen Tiefgarage herausfahre, hebt ein Wachposten die Hand von seiner Waffe, und unwillkürlich winke ich ihm enthusiastisch zu. Mein Besuch bei Daniel Weinberger hat mich beschwingt, nicht zuletzt, weil seine letzte Bemerkung so gut zu einem meiner Steckenpferde passt.
Es hat mich lange geärgert, dass unsere Einstellung zu Verhalten und Psyche so tief von der Vorstellung geprägt ist, dass man die Menschheit in Gesunde und Kranke aufteilen kann. Das ist eine medizinische Denkweise. Im biologischen Sinn reden wir über Variation, wie Weinberger betont hat. Es gibt keine gesunden und ungesunden Gene; die Variation ist die Modelliermasse, mit der die Evolution unterschiedliche Erscheinungen formt. Mutationen und ihre zufälligen Veränderungen im Genom sind die Garantie dafür, dass es Evolution und Anpassung überhaupt gibt. Und Variationen, die im einen Kontext ungünstig sind, können in einem anderen Kontext nützlich sein.
Das Asperger-Syndrom ist ein hervorragendes Beispiel. Den Aspies, wie viele sich selbst nennen, fällt es sehr schwer, intuitiv die Gefühle anderer Menschen zu verstehen. Ihre eigenen Gefühle bringen sie nicht auf die übliche, akzeptierte Weise zum Ausdruck. Sie wirken unbeholfen, unberechenbar, seltsam. Menschen mit Asperger werden heute der Kategorie Autisten zugeordnet; sie zeigen einige typisch autistische Verhaltensmuster und Charakterzüge. Zum Asperger-Syndrom können aber auch noch andere Verhaltensweisen gehören, etwa eine Neigung, intensiv eigene Interessengebiete zu verfolgen, der Drang, ein unglaubliches Detailwissen anzuhäufen, und eine außergewöhnliche Fähigkeit zur mentalen Fokussierung. Dank dieser Wesens- und Charakterzüge sind manche Aspies brillant bei Aufgaben, die lange Konzentration und intensives Nachdenken verlangen, vor allem, wenn sie sich in einer Umgebung befinden, die beides ermöglicht und wenig Wert auf soziale Umgangsformen legt. So betrachtet ist die Verhaltensvariation, die wir als Asperger-Syndrom bezeichnen, keineswegs »krankhaft«.
Forschungen in der Verhaltensgenetik haben gezeigt, dass Gene nicht in einem Vakuum existieren, sondern sich abhängig von den Umständen mehr oder weniger vorteilhaft entfalten. Diese Denkweise wird mit Sicherheit die Art verändern, wie wir uns selbst und andere betrachten. Zum Beispiel wird oft die Sorge geäußert, immer mehr Verhaltensweisen würden als »krank« etikettiert. Und wenn Sie sich Lehrbücher über psychiatrische Krankheiten ansehen, ist es tatsächlich so, dass jede Neuauflage immer mehr und immer spezialisiertere Diagnosen enthält. Man könnte geradezu von einer Diagnosewut sprechen. Die Verhaltensgenetik vertritt die Gegenposition dazu: Sie zeigt uns, dass das Spektrum des »Normalen« erweitert werden muss und nicht eingeschränkt und dass biologische Variation auf genetischer Ebene eine breite Palette von psychischen Verfassungen und Verhaltensweisen hervorbringt. Die Pioniere, die Genetik und Hirnforschung verbinden, haben nachgewiesen, dass Gene nicht für ein bestimmtes Verhalten codieren, sondern wirken, indem sie unser komplexes, dynamisches Nervensystem formen und anpassen. Diese Forscher decken auf, wie äußere Einflüsse und Umweltfaktoren zu unterschiedlichen Ergebnissen für das Gehirn führen – und damit für die Person.
»Die Debatte über angeboren und anerzogen ist vorbei«, hat der amerikanische Psychologe Eric Turkheimer forsch erklärt. »Das Fazit lautet, dass alles erblich ist, und das hat alle Lager in der Debatte überrascht.« 26
Die logische Konsequenz sollte sein, dass wir uns nicht zu ausschließlich auf unsere Gene konzentrieren. Vielmehr sollten wir das genetische Wissen als Sprungbrett nutzen, um uns selbst besser zu verstehen: wie wir eine bestimmte Eigenschaft erben, ob Krankheit oder Verhaltensweise, indem wir unsere genetische Ausstattung und unser physisches Selbst einer bestimmten Umwelt aussetzen. Mit einer speziellen Ernährung oder einem Sportprogramm können Sie vielleicht verhindern, dass eine ungünstige Kombination von Varianten in Ihrem Genom sich in Form von Herzkrankheit oder Diabetes ausdrückt. In der Zukunft können Sie vielleicht durch spezielle mentale oder soziale Aktivitäten in der Lage sein, den Effekt eines Gens abzumildern, das Ihr Nervensystem auf eine
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