Mein wundervolles Genom
wenn Letzteres stimmt, was formt sie dann – das Handeln der Eltern, im Guten wie im Schlechten? Die unzähligen kleinen Taten, die sich im Lauf eines Lebens ansammeln?
Wenn Sie Eltern fragen, werden Sie von den meisten hören, dass bei ihrem Kind von Geburt an eine Persönlichkeit erkennbar war. »Die kleine Laura war vom ersten Tag an ein Hitzkopf«, oder »Harry war von Anfang an ausgeglichen«. Mit anderen Worten, wir denken, wirwüssten sehr schnell, mit was für einem Kind wir es zu tun haben, und in gewisser Weise bedeutet das, dass wir uns zurücklehnen und zusehen können, wie die Persönlichkeit sich mit den Jahren entfaltet. Man kann nicht viel tun – weder in der einen noch in der anderen Richtung.
Doch seit Freud die Kindheit als Schlüssel zu jeglichem Verständnis etabliert hat, sucht die Psychologie die Antwort auf so ziemlich alle Fragen in frühen Erlebnissen und Einflüssen – und wir machen es im Alltag genauso. Bereitwillig verweisen wir auf Erlebnisse, Stimmungen und Gefühle, die Jahrzehnte zurückliegen, wenn wir unsere Reaktionen im Hier und Jetzt erklären wollen. Wir suchen nach Mustern in unseren Denk- und Verhaltensweisen, die aus unserer Kindheit stammen. Wir führen es auf eine schlechte Beziehung zu unserer lange verstorbenen Mutter zurück, wenn wir im mittleren Lebensalter in uns gekehrt und verbittert sind. Und wenn eine Frau zu Hause und bei der Arbeit laut und dominierend ist, kann es nur daran liegen, dass sie mit einer Horde Geschwister auf dem Land aufgewachsen ist.
Aber wie vernünftig ist das?
Über dieses Thema habe ich oft mit meinem Vater diskutiert – obwohl wir beide nur vage Vermutungen hatten, um unsere jeweiligen Argumente zu untermauern. In seinen späten Jahren hatte er ein schlechtes Gewissen wegen Dingen, die er, nachdem seine Erziehungsleistung im Wesentlichen abgeschlossen war, als elterliche Sünden betrachtete. Die Probleme seiner erwachsenen Tochter müssten die Wurzel in ihrer Erziehung haben, glaubte er. Hing es vielleicht mit seinen manchmal überzogenen Erwartungen zusammen, dass ich chronisch unzufrieden war und Probleme mit unerfüllten Ambitionen hatte? Ich war mir nicht so sicher. Mein Vater erwiderte, es sei fraglos zu früh gewesen, dass ich bereits mit zwei Jahren, noch während der Sauberkeitserziehung, das Alphabet lernte. Nun, daran hatte ich keine Erinnerung. Aber auf einem verblassten Foto sitze ich auf dem Töpfchen, vor mir kleine Holzklötze in Form von Buchstaben, die das Wort K-A-T-Z-E ergeben. Auf dem Foto sehe ich nicht unglücklich aus. Aber vielleicht war esja wirklich etwas übertrieben, dass ich unbedingt lesen können sollte, noch bevor ich in den Kindergarten kam, oder dass wir uns auf der morgendlichen Fahrradfahrt zu eben diesem Kindergarten Schachzüge zuriefen – »Blindschach« spielten, wie wir sagten.
Meine Mutter hielt all das jedenfalls für verrückt, fast an Kindesmisshandlung grenzend. Doch obwohl es Kämpfe darum gab, wann ich ins Bett gehen musste, war ich am Tag die Tochter meines Vaters, seine Komplizin in meiner Erziehung. Wahrscheinlich half es, dass Lesen belohnt wurde: Jedes Mal, wenn ich einen vollständigen Satz aus Dick und Jane laut vorlas, bekam ich eine hübsche, pralle Rosine; wenn eine ganze Seite geschafft war, gab es eine Süßigkeit. Und Lob natürlich. Seit damals verbinde ich wie der sprichwörtliche Pawlow’sche Hund Lesen mit dem Essen von Süßem. Beim Anblick eines Buches läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
Trotzdem glaube ich bis heute, dass nichts von all dem mir geschadet hat. Nicht per se. Ich laufe nicht mit dem Gefühl herum, jemand hätte mich gezwungen, etwas zu tun, was ich nicht tun wollte. Meinen schuldbewussten Vater erinnerte ich immer daran, was schließlich passierte, als ich mit Dick und Jane unter dem Arm in den Kindergarten marschierte: Ich stellte fest, dass die anderen Dreijährigen höchstens ihren Namen in Blockschrift lesen konnten. Und sofort gab ich das Lesenlernen auf. Weder Rosinen noch Bonbons konnten etwas bewirken. Letztlich war es viel wichtiger, so zu sein wie die anderen Kinder, als zu tun, was Papa wollte.
Heute, als Erwachsene, erkläre ich bereitwillig, dass man nicht pauschal alles, was im Leben schiefgeht, auf die Kindheit schieben sollte. Übrigens auch nicht alles, was gut läuft. Als Kinder können wir uns nicht gegen die Eltern wehren, die wir haben, und gegen die Erziehung, die sie uns angedeihen lassen; beides kann eine Prüfung sein.
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