Meine 500 besten Freunde
gute Plätze sind, und weil die 13 seine Glückszahl ist, beschließt er, diesen Sitzplatz für sich zu beanspruchen. Er ruft sich den Artikel in den Sinn, für den er nominiert ist. Überschrieben hat er ihn mit einem Jünger-Zitat: »Eine Zeit nimmt Abschied.« Theodor rezitiert innerlich den ersten Absatz, dann kommt ihm ein anderes Jünger-Zitat in den Sinn, das er sehr mag – »Es gibt keine verkannten Genies. Jeder findet im Leben seinen Platz«, und plötzlich fällt ihm ein Zitat von Adorno ein, »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen«, und er beschließt, demnächst einmal wieder die »Minima Moralia« zur Hand zu nehmen, was seine Gedanken zu dem unsortierten Stapel Bücher führt, der sich neben seinem Bett mittlerweile zu einem guten Meter Höhe türmt, und er sieht sich wieder nach seiner Frau um, die in diesem Assoziationsfeld friedlich schlafend auf ihrer Seite des Ehebettes aufgetaucht ist.
Tatsächlich ist Luise da nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Sie kommt mit schlechten Nachrichten. Luca habe einen verschärften Verweis erhalten, und sie müsse kommende Woche an den Bodensee, der Internatsleiter wünsche ein Gespräch. Luca werde der Vorwurf gemacht, Marihuana konsumiert zu haben. Er bestreite dies, aber sie glaube, dass er lügt. Theodor erinnert sie daran, dass auch sie seinerzeit Haschisch geraucht hätten, aber Luise sagt, dass das etwas anderes gewesen sei. Dann fügt sie hinzu, dass ihm das ja auch alles ganz egal sein könne, es sei schließlich ihr Sohn, und ihn interessiere das ja ohnehin nicht, denn es habe ja nichts mit seiner Zeitung zu tun. Sie streckt ihre Hand aus, was er, korrekt, als Aufforderung versteht, ihr ihre Eintrittskarte auszuhändigen. Mit dieser läuft Luise dann zügig in Richtung Saal. Theodor folgt ihr, wobei er sich Mühe gibt, nicht auszusehen, als folge er ihr.
Als er Luise einholt, hat es bereits zum dritten Mal geläutet, und das Licht im Saal wird dunkler, wie durch die offen stehenden Türen zu sehen ist, von denen sie nur noch wenige Meter trennen. Über Lautsprecher werden die Gäste aufgefordert, ihre Plätze einzunehmen. Im Vorsaal herrscht kurz eine kleine Aufregung, auch Luise verfällt jetzt in ein Lauftempo, das daraufhin auch Theodor einschlägt, der sie auf keinen Fall noch einmal aus den Augen verlieren möchte. Der Saal entpuppt sich als riesenhafte Halle, in die locker mehrere Boeing 747 passen würden, wie Theodor schätzt. Durch Dekoration wurde ihm mühsam etwas Festliches abgetrotzt, zwar ist die Bestuhlung recht simpel, doch auf der Bühne glitzert es wie nachts auf dem Times Square. Auf die Rückwand werden gerade Bilder vom Eintreffen der Gäste auf dem roten Teppich projiziert (gab es einen roten Teppich? Sie mussten versehentlich daran vorbeigelaufen sein). Von irgendwoher steigt Theodor der Geruch von Kartoffelpuffern in die Nase.
Reihe zwei entpuppt sich enttäuschenderweise als in der Saalmitte liegend, offenbar läuft das Zählsystem von dort aus in zwei Richtungen. Und weil Platz 13 und 14 wiederum genau in der Mitte liegen, müssen sich Theodor und seine Frau an den Knien der bereits Sitzenden entlangquetschen, die nicht die Höflichkeit in sich finden, kurz aufzustehen.
Als sie endlich sitzen, betritt auch schon Walther Finsterkuhl die Bühne. Theodor erschrickt, ihn vollständig ergraut zu sehen. Weil er weiß, dass seine Frau es nicht mag, wenn er flüstert, unterlässt er es, eine Bemerkung darüber zu machen. Er will sich nun ganz der Veranstaltung hingeben, die, den elsy, die, inleitenden Worten seines ehemaligen Kollegen nach zu urteilen, der nach anfänglichem Rückkoppelungspfeifen mit seinem Mikrophon zurechtkommt, allerlei Unterhaltsames zu bieten verspricht. Irgendeine Soulsängerin wird ihre neue Single präsentieren, und was die Laudatoren angehe, dürfe man sich auf einige Überraschungen freuen. Einen kündigt Finsterkuhl bereits namentlich an, Marcel de Laurentis, einen ehemaligen Chef Theodors, der heute als Schriftsteller in der Schweiz lebt und jeden Herbst pünktlich zur Buchmesse einen neuen Bestseller herausbringt. Theodor kann nicht anders, als ihn zu bewundern. Nicht nur für die Millionen, die er seit seinem Abschied aus dem Journalismus verdient haben dürfte, sondern auch für seine landesübergreifend bekannte Eleganz. Schon in den neunziger Jahren trug er maßgeschneiderte Anzüge, oft in gewagten Farben, und Theodor ist gespannt darauf, wie er sich
Weitere Kostenlose Bücher