Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine 500 besten Freunde

Meine 500 besten Freunde

Titel: Meine 500 besten Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Adorján
Vom Netzwerk:
ebenso wie Menschen, die sie freundlich ansahen, ihr eine Tür aufhielten oder ein Kompliment machten/bzw. ihr irgendwann mal eines gemacht hatten. Sonst konnte es jeden treffen. Sogar Spatzen waren von ihrer inneren Stimme schon mit Na, ihr Ärsche tituliert worden. Nicht einmal vor Gegenständen machte sie Halt. An diesem Morgen zum Beispiel hatte sie eine leere Shampoo-Flasche mit dem inneren Geleitwort Ciao, du Scheiße in den Mülleimer gegeben. Sie hatte sich selbst darüber gewundert.
    Der Fairness halber sei gesagt, dass auch sie selbst nicht verschont wurde. Irrte sie sich mal mit irgendetwas, was selten vorkam, überzog ihre innere Stimme sie mit Hohn: Ah, bist du blöd, unglaublich, wie kann man nur so blöd sein, du bist so eine unfassbar blöde Sau … Einmal war sie beispielsweise in der U-Bahn versehentlich zwei Stationen in die falsche Richtung gefahren, und es hatte anschließend vier Stationen in die richtige Richtung gebraucht, bis ihre Beschimpfungen wieder von ihr abgelassen hatten. Noch ärger war es, als sie einmal mit dem Fahrrad gestürzt war. Sie hatte in der Abenddämmerung zwischen zwei Pfosten nicht die gespannte Metall-Kette gesehen. Es waren also gar keine freistehenden Pfosten gewesen, sondern eine Art Absperrung, die sie ohne abzubremsen einfach durchfuhr. Ihr Rad überschlug sich, sie stürzte mit den Händen voran, schlug trotzdem mit dem Kinn auf den Asphalt, Hände, Knie, Schienbeine, alles blutig geschürft. Die Schmerzen setzten mit Verzögerung ein, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dann brannte es los, als hätte jemand etwas Trockenes mit Benzin übergossen und angesteckt. Die Gedanken waren schneller gewesen, noch im Flug hatten sie losgeschimpft, unerschrocken, mitleidlos: Du blöde Schlampe, was fährst du auch so schnell, unfassbar, wie hohl du bist. Wie kann man nur nicht sehen, dass da eine Kette ist, du bescheuerte Idiotin, du beschissene scheißkurzsichtige Vollidiotin, du unfassbar idiotische Kuh, was musst du auch blind hier rumfahren, das glaubt ja kein Mensch, wie blöd du … und so weiter.
    Ein einziges Mal nur hatte sie jemand von ihrer Zweitstimme erzählt, ihrem Mann. Er hatte gelacht, als mache sie einen Witz, dann von etwas anderem gesprochen, sie aber noch zweimal ängstlich von der Seite angesehen. Er hatte gehofft, sie mache einen Witz, so war es wohl gewesen, und dass er es nicht besser wusste, sie nicht besser verstand, wunderte sie nicht. Er war so anders als sie. Eigentlich in fast allem das genaue Gegenteil. Anselm war Tänzer gewesen, bevor er Yoga entdeckt und zu unterrichten begonnen hatte, in einem seiner Workshops hatten sie sich kennengelernt. Ein Mann, der seinen Körper beherrschte, mit dem er magische Dinge anstellen konnte, während sie von ihrem Geist beherrscht wurde, den Kht sei sie in Kunstgeschichte und Japanologie ausgebildet und ein paar Jahre als Mitarbeiterin einer Galerie benutzt hatte, bevor ihr die Erkenntnis dämmerte, dass ihr Weg vielleicht ein anderer war. Anselm hatte einen langen Torso, muskulöse Beine, Arme mit ausgeprägten Adern und Sehnen und einen langen, starken Hals. Wenn er lachte, sah er aus wie ein Junge, wenn er ernst guckte, wie ein alter Mann, was daran lag, dass seine Haut sehr trocken war und er vorzeitig, mit Mitte dreißig schon, tiefe Falten um den Mund und auf der Stirn bekommen hatte, die seither zu Furchen geworden waren. Um seine langen Wimpern beneidete Ayumi ihn. Allerdings waren sie so hell, dass man sie nur bei Gegenlicht und von der Seite sah. Und seine Haare wurden schon schütter, vor allem am Hinterkopf, während sie ihre langen dunklen Locken kaum zu bändigen wusste. Wenn sie hinter ihm stand, war sie nicht zu sehen, so groß war er – und so klein sie. Anselm war mit dem Temperament einer zufrieden grasenden Kuh gesegnet. Er war friedliebend, harmoniebedürftig, nachsichtig. Allerdings hatte sich, was Ayumi anfangs für Erleuchtung gehalten hatte, im Zusammenleben als leichte Depression herausgestellt.
    An diesem Tag, einem garstig grau verregneten Oktobertag, der schon am Vormittag nach Abend aussah, war die Stimme bis auf einige wenige Zwischenrufe friedlich gewesen. Sie hatten Passanten gegolten, die auf dem Bürgersteig vor Ayumi gingen und nur schwer zu überholen gewesen waren. Weg da, Herr Hässlich. Move it, blöde Kuh, na also, geht doch, beschissene Fotze. Sie hatte ihr Ziel dennoch pünktlich erreicht, ein in den fünfziger Jahren errichtetes, schmutzig-weißes Gebäude, das sich

Weitere Kostenlose Bücher