Meine 500 besten Freunde
in einem Hinterhof befand. Er musste in Reiseführern als Sehenswürdigkeit beschrieben sein, anders war nicht zu erklären, warum sich dort stets Touristen aufhielten, die drauflosfotografierten, als hätten sie Eintritt gezahlt. Auch heute musste Ayumi sich einen Weg durch die Menschen bahnen, die ihre Handykameras auf die schmucklosen Wände und das wackelige türkisfarbene Geländer gerichtet hielten – Hau doch ab, Pisser, weg da, du Fettarsch, komm schon, mach hin, du beknackter Penner, und du auch mit deinem sehr hässlichen blöden Gesicht . Neben der Eingangstür stand auf einem kleinen Messingschild »Peaceful Warrior, IV. Stock«, daneben das Logo des Studios: das gezeichnete Gesicht eines mild lächelnden Buddhas. Sie drückte auf den Klingelknopf, und die Tür öffnete sich mit leisem Brummen. Im düsteren Eingangsbereich wiesen mehrere Schilder darauf hin, was in diesem Haus alles verboten war, darunter Fahrräder abstellen, Kinderwagen parken und rauchen.
Im Erdgeschoss fand sie den Lichtschalter nicht und lief einfach los, ab dem zweiten Stock war es dann ziemlich dunkel, und weil sie auch dort keinen Lichtschalter fand, musste sie sich die letzten zwei Stockwerke am Geländer festhalten, um zu wissen, wo die Treppe eine Kurve machte. Super Idee, ganz toll, Frau Blöd , höhnte die Stimme, doch Ayumi achtete im Moment nicht auf sie. Sie dachte nach. Zu Beginn der Stunde, während die Gruppe sich sammelte, zu sich fand, im Raum ankam und mit geschlossenen Augen dasaß und einfach atmete, sollten die Lehrer immer ein paar Worte sprechen. Das wollte Angelika so, die Besitzerin des Yogastudios, und Ayumi hatte oft genug in Angelikas eigenen Stunden erleben können, was diese sich darunter vorstellte. Sie sprach dann von Ruhe, Demut, Klarheit und Erleuchtung, und ihre in einem New Yorker Schauspielstudio ausgebildete Stimme klang dabei so sanft und klar, dass Ayumi jedes ihrer sorgfältig gesetzten Worte am liebsten mitgeschrieben hätte, aber das ging nicht, auch sie saß ja mit geschlossenen Augen auf einer Yogamatte und atmete. Doch während sie versuchte, innerlich loszulassen, ein Gefühl von Freiheit zu entwickeln, sich ganz ihrem Atmen hinzugeben, nicht mehr zu Kniceiner denken, sondern zu s e i n, versuchte sie insgeheim mindestens ebenso konzentriert, sich Angelikas Worte zu merken, was ihr leider immer nur bruchstückhaft gelang und den Sinn der Übung natürlich zunichtemachte.
Ayumi machte jetzt seit fünf Jahren Yoga, und sie konnte nicht behaupten, es beruhige sie. Sie praktizierte jeden Tag, seit sie die Lehrerausbildung machte, sogar mehrere Stunden, und noch immer hatte sich keine Charakterveränderung eingestellt, wie sie sich das erhofft hatte, und wie es ihr auch von Anselm in Aussicht gestellt worden war, der von sich behauptete, die täglichen Asanas hätten ihn ausgeglichener gemacht. Immerhin hatte Yoga ihrem Leben eine Richtung verliehen, eine berufliche Zukunft, eine kleine finanzielle Sicherheit. Reich würde sie nicht damit werden, das war ihr klar. Sie war nicht der Typ, der irgendwann ein eigenes Studio eröffnen würde wie Angelika, dazu fehlte es ihr an Mut. Aber wenn sie ihr Zertifikat hätte, könnte sie zu einem monatlichen Festgehalt in einem der vielen Yogastudios unterrichten, die an jeder Ecke der Stadt aus dem Boden schossen und eine nicht enden wollende Schar von jungen Frauen anzogen, die ihre Haare zu hohen Pferdeschwänzen gebunden hatten und mit ihren geschulterten Matten dem Stadtbild den Hauch einer internationalen Metropole verliehen.
Kurz vor dem vierten Stock kam ihr plötzlich eine Eingebung. Sie würde darüber sprechen, dachte sie, während sie in der Dunkelheit vorsichtig Stufe um Stufe erklomm, dass man etwas schenken sollte, ohne im Gegenzug etwas dafür zu erwarten. Nette Worte, Aufmerksamkeiten, sich selbst. Auf dieser Höhe drang endlich wieder Tageslicht ins Treppenhaus, und Ayumi blieb stehen, um in ihrer großen Umhängetasche nach dem kleinen Mäppchen zu suchen, in dem sie ihre Schminkutensilien aufbewahrte. Sie nahm die Puderdose heraus, klappte sie auf und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Seit sie einmal erst nach einer ihrer Unterrichtsstunden bemerkt hatte, dass ihr die Wimperntusche zu schwarzen Flecken unter den Augen verlaufen war, was sie aussehen ließ, als hätte sie geweint, kontrollierte sie immer vorher, ob alles in Ordnung war. Schien okay zu sein. Sie strich sich eine Locke aus der Stirn, die dort, Verpiss dich , nicht
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