Meine beste Feindin
durch die vollgestopfte Kneipe stürmen und ihr den Hals umdrehen. So weit war es mit unserer Freundschaft gekommen. In den chaotischen Jahren nach dem College trafen wir uns ab und zu, nur wir zwei. Bei diesen Verabredungen bewunderte ich stets ihre scheinbar übernatürliche Fähigkeit, gut aussehende Männer anzuziehen, und sie erzählte mir, wie viel meine Freundschaft ihr bedeutete. Und dann gab es die Telefonate, in deren Verlauf sie mir lange, schreiend komische Storys über ihre romantischen Abenteuer auftischte, die meist damit endeten, dass der jeweilige Mann um eine zweite Chance bettelte, während Helen versuchte, irgendwie aus der Sache rauszukommen. Deshalb verdrehte ich meist die Augen, wenn ihre Nummer auf dem Display erschien, aber ich musste auch immer lächeln, wenn ich an sie dachte. Niemand war so wie Helen. Das war mir schon als Teenager klar gewesen.
Als sie den Sommer über ihre Spielchen mit Nate gespielt hatte - ein Blick aus dem Augenwinkel, dieses vertraute Lächeln, das sie so gut beherrschte -, hatte ich nur die Zähne zusammengebissen und es ignoriert. So war sie eben, dachte ich. Solche Sachen machte sie immer, das hatte nichts zu bedeuten, sie konnte eben nicht anders. Immer wieder versicherte ich Georgia und Amy Lee am Telefon, dass Helens Dreistigkeit natürlich unangenehm war, aber selbstverständlich nichts weiter passieren würde. Denn obwohl sie mich oft zur Weißglut brachte, waren wir schließlich Freundinnen . Amy Lee und Georgia hatten im Wohnheim direkt gegenüber gewohnt und sich von Helens Charme damals nicht so einwickeln lassen wie ich. Daher waren sie verständlicherweise skeptisch. Zum Glück waren sie aber viel zu fürsorglich, um jetzt mit einem »Ich hab’s dir ja gesagt« um die Ecke zu kommen.
»Bitte sehr, einmal Jägermeister«, verkündete Amy Lee und stellte ein Schnapsglas vor mir auf den Tisch. Ich zuckte zusammen. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich in Gedanken abgeschweift war. »Sieh es als Medizin. Betäub den Schmerz, sing Happy Birthday , und wenn du heute Abend nach Hause gehst, wirst du den beiden nie wieder zum ersten Mal in der Öffentlichkeit begegnen müssen.«
Mir war schon ein wenig schwummerig, aber ich kippte den Schnaps trotzdem runter.
»Und jetzt lass uns aufhören, ihn anzustarren«, schlug Amy Lee nicht zum ersten Mal vor. »Reden wir doch über etwas anderes. Zum Beispiel darüber, wie ätzend Georgias Job ist. Ich fange mal an. Georgias Job ist ätzend.«
Georgia war Anwältin und wegen ihrer Arbeit ständig auf Reisen, so auch heute. Wenn sie besonders düster gestimmt war - meist nach ein paar Wodka-Red Bull zu viel -, skizzierte sie auf Cocktailservietten problemlos die Grundrisse der wichtigsten Inlandsflughäfen. Dieses Mal war sie in Cleveland. Oder war es Cincinnati? Irgendwo mitten in den USA. In mehreren aufmunternden Nachrichten auf der Mailbox und einer langen, mit Schimpfwörtern gespickten SMS hatte sie mir geraten, Nate einfach zu ignorieren, und mir versichert, dass Helen es gar nicht wert war, sich über sie aufzuregen.
Auch wenn sie es ein wenig anders ausgedrückt hatte.
Mit ein paar Jägermeistern, so beschloss ich, sollte das alles gar kein Problem sein.
Als ich Nate später vor den Toiletten fast in die Arme lief, wurde mir noch weitaus schwummeriger.
Wir standen in dem kleinen Kabuff, dessen Wände über und über mit Flyern für lokale Bands und vorgeblich hippen Postkarten beklebt waren, und starrten uns an.
Für einen Moment waren wir ganz allein. Keine Helen weit und breit. Ich hätte mir ja einen anderen Ort dafür ausgesucht als eine laute Kneipe, aber immerhin waren wir zum ersten Mal seit siebzehn Tagen ungestört. Da durfte ich nicht wählerisch sein.
Doch dann schob sich Nate mit einem kaum merklichen Seitenblick an mir vorbei.
Es verstrichen noch etliche Sekunden, bevor mir klar wurde, dass er tatsächlich, wirklich ernsthaft vorhatte, nicht mit mir zu sprechen.
»Willst du mich verarschen?«, fragte ich. »Du ignorierst mich? Du hast tatsächlich die Dreistigkeit, mich zu ignorieren?«
»Gus«, seufzte Nate und schüttelte den Kopf. Sein glänzendes braunes Haar fiel nach vorn, und er schob sich die Strähnen aus der Stirn. Seine Stimme passte zu seinen Augen: süße, dunkle Schokolade. Er hob die Hand, als wollte er mich berühren, dann ließ er sie wieder sinken. »Du sahst so wütend aus.«
»Seltsam«, stieß ich hervor. »Warum bloß? Der eine lausige Anruf von dir hat
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