Meine beste Feindin
den Abend meist damit, in der Stadt herumzulaufen, so wie mit achtzehn, als ich meine plötzliche Freiheit in vollen Zügen genießen wollte. Damals hatte ich mich in Boston verliebt und in Amy Lee und Georgia ja gewissermaßen auch. Das war alles zur gleichen Zeit geschehen. Es war, als sei die ganze Stadt ein Denkmal für unsere Freundschaft - es gab kaum eine Ecke, die nicht irgendwelche gemeinsamen Erinnerungen weckte. Zum Beispiel an die Abende, die wir in der Bukowski Tavern verbracht hatten, wo wir mit hundert verschiedenen Biersorten auf tote Dichter anstießen. An wilde Nächte in der Lansdowne Street während unser Clubbing-Phase. An die Patriot’s-Day -Feier oder daran, wie wir uns von Kopf bis Fuß in die Farben der Red Sox hüllten, um unser Team anzufeuern.
Ich musste auch an Helen denken, so ungern ich es zugab. An die Abende, an denen wir auf Männerjagd gingen, während wir eigentlich pauken sollten. An das Shoppen auf der Newbury Street und die Ehrfurcht angesichts der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten von Helens Kreditkarte.
Boston war erst unser Tummelplatz gewesen, dann unser Campus, und jetzt war es unser Zuhause. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es sein würde, hier ein Leben in Einsamkeit zu führen.
Okay, das war jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich hatte ja noch andere Freunde. Sie waren aber mehr Gelegenheitsfreunde, Wochenendfreunde. Falls ich mehr Zeit mit den Mitgliedern meines ausgedehnten Bekanntenkreises verbringen wollte, würde ich sehr viel Energie investieren müssen. Ich würde unzählige Telefonate führen und jede einzelne Einladung annehmen müssen - eben all die Dinge, die man tat, wenn man seinen Freundeskreis erweitern wollte. Das hatte ich schon lange nicht mehr nötig gehabt. Allein der Gedanke machte mich ganz krank. Und selbst wenn ich mich freudig ans Werk machte, würde es noch Ewigkeiten dauern, bis ich so enge Freundschaften aufbauen konnte wie die, die ich (offenbar) gerade verloren hatte. Man konnte eine Wir-treffen-uns-mal-auf-nen-Kaffee-Bekanntschaft nicht von heute auf morgen in eine Ruf-mich-bitte-dreimal-am-Tag-an-Freundschaft verwandeln. Das brauchte Zeit. Fingerspitzengefühl. Geduld. Und in meinem Fall würde ich wohl auch erklären müssen, warum genau Amy Lee und Georgia nicht mehr meine besten Freundinnen waren. Und das konnte ich einfach nicht.
Aus diesem Grund ging ich schließlich nach Hause, wartete ab, bis meine Nase aufgetaut war und rief Nate an.
Ich wollte keine Minute länger darüber nachgrübeln, was er wohl gerade tat und warum er mich nicht anrief. Nicht, dass es noch irgendeine Bedeutung gehabt hätte. Wenn er Helen wirklich liebte, würde er bestimmt nicht diese Augenblicke mit mir teilen, er würde mich nicht auf diese Art und Weise ansehen, die Helen gehasst hätte. Und so betonen, dass man auf mich zählen konnte. Wenn er sie liebte, hätte er mich wohl kaum siebenmal hintereinander angerufen und wäre auch nicht nachts vor meiner Wohnung aufgetaucht.
Man konnte auf viele Arten in einer Beziehung feststecken, die von außen wie eine gute Sache wirkte, von innen aber nicht mehr ganz so sehr. Helen spielte ihre Spielchen mit Bravour, es war also schwer zu sagen, welche Register sie wohl gezogen hatte, um ihn zu locken. Und jetzt kam er aus der Nummer nicht mehr raus. Er hatte mich quasi vor aller Augen abserviert, und jetzt war es natürlich eine Frage der Ehre, dass er bei Helen blieb, oder? Das ergab einen Sinn. Die Sache mit ihm war das Einzige in meinem unglaublich chaotischen Leben, das mit einer schlichten, schon längst überfälligen Unterhaltung geklärt werden konnte.
Nach all diesen Überlegungen war die logische Konsequenz, ihn einfach anzurufen.
Es ging nur die Mailbox an, was mich nicht überraschte - ich wollte bloß nicht, dass er wieder so tat, als sei ich irgendein Kumpel. Ich konnte zwar verstehen, warum er das getan hatte, aber bei dem Gedanken daran verspürte ich ein ungutes Ziehen in der Magengegend, genauso wie bei dem alten Part-Time-Lover -Video von Stevie Wonder. Es war irgendwie widerlich. Ich war eine erwachsene Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahm. Die Mailbox war okay, damit konnte ich umgehen.
»Hey«, sagte ich, »ich bin’s. Ich wollte mit dir darüber reden, was eigentlich los ist. Wir haben über die eine Nacht nie richtig gesprochen, ich denke aber, das sollten wir. Ich wünschte wirklich, ich hätte deine Anrufe nicht verpasst. Ich denke, wir haben da noch
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