Meine beste Feindin
und so getan, als ob nie etwas passiert wäre.« Minerva zuckte mit einer Achsel. »Wie du weißt, telefonieren wir normalerweise mehrmals am Tag. Deshalb hatte ich sie in Wirklichkeit mehr vermisst, als ich auf die Entschuldigung gehofft hatte. Also spielte ich mit, und dann war plötzlich alles wieder wie vorher. Wir haben nie ein Wort über die Sache verloren.«
»Ihr hattet einen Riesenstreit und habt nie darüber gesprochen.« Ich versuchte, mir die Situation vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Meiner Erfahrung nach führte ein Streit unausweichlich zu einer langen Phase der Diskussionen und Analysen, die letztendlich größeren Schaden anrichteten als der Streit selbst und hässlichere Narben hinterließen. Ein Gedanke, der mich normalerweise in Angst und Schrecken versetzen würde - aber in diesem Fall war ich ja noch nicht einmal sicher, ob es sich nicht vielmehr um Amy Lees persönlichen Abgang handelte.
»Nachdem einige Zeit verstrichen war, gab es eigentlich nicht mehr viel zu reden«, sagte Minerva. »Alles war wieder in Ordnung. Dorcas ist meine älteste Freundin. Sie ist mir wichtiger als irgendetwas, über das ich mich geärgert habe.«
Sie legte den Kopf zur Seite und sah mich mit einem erstaunlich scharfsinnigen Blick an. Ich hatte diesen Blick schon ein- oder zweimal zuvor gesehen, und er gab mir jedes Mal zu denken. Denn unter anderem schien er mir zu sagen, dass sie durchaus wusste, für wie verrückt ich sie hielt. Dass sie mich darin sogar bestärkte.
Mir wurde plötzlich klar, dass ich die Luft angehalten hatte.
»Und auf jeden Fall«, sagte sie langsam, ohne den Blick von mir abzuwenden, »solltest du auch nicht vergessen, dass jede Beziehung mal eine Auszeit braucht. Vor allem eine Freundschaft. Wenn die Frauen, die dich verstehen, nicht mehr an deiner Seite sind, wirst du nämlich erkennen, dass es von ihrer Sorte nur sehr wenige gibt.«
Als ich am Abend vor meinem Anrufbeantworter stand und die große rote Null anstarrte, merkte ich erst, wie sehr ich insgeheim auf Amy Lees Anruf gehofft hatte. Ich wollte den Tatsachen nicht ins Auge sehen, aber die Botschaft war unmissverständlich. Sooft ich auch mein Handy vom Festnetz aus anrief und umgekehrt, um sicherzugehen, dass alles funktionierte, da waren keine Nachrichten. Funkstille.
Ich hatte ja nicht unbedingt eine Entschuldigung erwartet, aber vielleicht so etwas wie »Ich hatte einen schlechten Tag, ich hab’s nicht so gemeint«. Dann würde das Ganze zumindest einen Sinn ergeben - denn Amy Lee hatte sich doch nicht wirklich von Georgia und mir losgesagt und es ernst gemeint, oder doch? Sie war sicher nur gestresst. Oder vielleicht - wer weiß - hatte sie sich mit Oscar gestritten. Oder es gab Probleme in der Praxis. Sobald ich erst einmal angefangen hatte, eine Erklärung zu suchen, fielen mir tausend mögliche Gründe für ihren merkwürdigen Auftritt ein. Immerhin war Amy Lee dafür bekannt, dass sie schnell in die Luft ging. Bei ihr brannte schon mal die Sicherung durch, aber andererseits beruhigte sie sich auch immer wieder ganz schnell. Ich nahm an, sie hatte den ganzen Sonntag lang geschäumt vor Wut, den Montag über reumütig vor sich hin gebrütet und würde noch am gleichen Abend anrufen.
Bei Georgia lag die Sache etwas anders. Ich war mir nicht sicher, wie sie die Angelegenheit mit Henry aufnehmen würde, denn etwas in dieser Art hatte es noch nie gegeben. Während ich also einerseits hoffte, dass sie anrufen würde, konnte ich es andererseits nur zu gut verstehen, wenn sie es nicht tat. Leider war ich es, die hier eine Grenze überschritten hatte. Jetzt musste ich mit den Folgen klarkommen.
Ich blieb viel länger auf als normalerweise und redete mir ein, so völlig in eine Serie auf dem Science-Fiction-Kanal vertieft zu sein, dass ich gar nicht auf meine Telefone achtete - die mit militärischer Präzision Seite an Seite auf dem Couchtisch aufgereiht waren. Aber auch wenn ich noch sosehr vorgab, ihnen keine Beachtung zu schenken und gänzlich mit der Battlestar-Galactica -Folge beschäftigt zu sein, die ich schon mindestens siebzigmal gesehen hatte, sie klingelten trotzdem nicht.
Am Donnerstag wurde ich langsam sauer. Ich saß an meinem Schreibtisch und tat so, als wäre ich in die Arbeit vertieft, aber in Wirklichkeit steigerte ich mich nach und nach in rasende Wut hinein.
Hatte vielleicht irgendjemand Amy Lee darum gebeten, einzuschreiten und sich als Moralapostel aufzuspielen? Als die Erwachsene ? Sollten
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