Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Gewürze aus fernen Ländern führte und abends geöffnet hatte. Wir sollten sofort wieder zurückkommen. Als wir losgingen, riefen alle durcheinander,gaben uns zusätzliche Anweisungen und versahen uns mit Ratschlägen und Warnungen.
Doch kaum waren wir auf der Straße, schien all das seine Bedeutung zu verlieren. Auf einmal war alles schwieriger, unübersichtlicher und unklarer. Die dichte und trunkene Luft des Frühlingsabends strudelte um uns herum, strömte durch die Straßen, ergoss sich lärmend in die Boulevards und rauschte tückisch in den kleinen, unbeleuchteten Gassen. Die Stadt hatte auf einmal ein neues Gesicht bekommen, von dem wir zuvor nichts geahnt hatten, sie hatte sich um neue Straßen erweitert, und links und rechts von uns erstreckten sich nun Stadtviertel, die wir nicht kannten.
Schon bald mussten wir von der empfohlenen Route abweichen. Meine Cousine Emilia war nämlich in Tränen ausgebrochen: In einigen dieser Straßen hätten ihr schon mal ältere Männer aufgelauert, hätten ihr zweideutige Zeichen gegeben, hätten sich ihr genähert und unanständige Angebote gemacht. Deshalb mussten wir nun einen Zickzackkurs einschlagen, längere Umwege um ganze Häuserblöcke machen und die ursprünglich vorgesehene Strecke ändern. Ohne nach rechts und links zu schauen rannten wir an adrett gekleideten Greisen mit Stöcken in den Händen vorbei, die aus dem Schatten der Bäume traten.
Das Sternbild des Großen Wagens, an dem wir uns orientierten, zeigte sich jetzt an den überraschendsten Orten: hinter den Schornsteinen der hohen Häuser, inmitten der Bäume in dunklen Gärten, am Ende langer Straßen. Meine Cousine Emilia erklärte das mit der Bewegung des gesamten Himmelsgewölbes, mit der Verschiebung der Sternbilder im Laufe der Nacht, mit der Erdumdrehung. Ich widersprach ihr, undso liefen wir Hand in Hand durch die mondhelle Stadt und stritten über die Mechanik des Himmels.
Zuerst waren nur sehr wenige Menschen auf den Straßen. Die letzten Kinder, die noch draußen gespielt hatten, gingen nach Hause, müde Familien kehrten von ihren Ausflügen zurück. Doch je weiter wir vorankamen, desto zahlreicher wurden sie. Man traf sie jetzt schon in Gruppen von zwei, drei, manchmal auch mehr Leuten an, wie sie im Lichtkreis einer Straßenlaterne standen und lebhaft über irgendetwas sprachen. Immer mehr Menschen kamen aus den unbekannten Mündungsarmen und Flusstälern der Nacht, aus den dunklen Gassen und schlummernden Häusern. Im Schatten der frisch belaubten Bäume war auf den Gehwegen das Geräusch ihrer Schritte zu vernehmen, als würden sehr kleine Insekten an den Blättern knabbern, und nur wenn sie eine beleuchtete Stelle ohne Bäume erreichten, waren ihre vorbeihastenden Silhouetten kurz zu erkennen.
Hin und wieder überholte uns ein Grüppchen eilig. Ihren Gesprächen konnten wir entnehmen, dass irgendetwas sie in Aufregung versetzt hatte und dass sie etwas erörterten, was gerade geschehen oder noch im Gange war, ein Ereignis, das sie aus dem gleichförmigen Ablauf ihres üblichen abendlichen Daseins gerissen hatte. Über den Köpfen der Passanten flatterten aufgeschreckte Nachtfalter umher, die Flügel der Fledermäuse schimmerten. Die Straßen füllten sich mit Gemurmel und Geflüster, nur hie und da hob jemand die Stimme oder stieß einen verblüfften Aufschrei aus. Alle hasteten in dieselbe Richtung, und jeder war sichtlich aufgeregt.
An einer Straßenecke entdeckten wir die Ursache dieserAufregung: Über den Dächern der Häuser zuckte und hüpfte der ausgelassene Feuerdrache in voller Pracht, seinen Schwanz hoch emporgereckt. Irgendwo brannte es. Aus den Kehlen der Leute brach ein lauter Schrei und jeder beschleunigte seinen Schritt. Schmächtige Radfahrer bahnten sich ihren Weg durch das Getümmel, sie drehten sich weiblich-kokett in den Hüften und zogen eigenwillige Sinuskurven durch die Menschenmenge. Auf den Pedalen stehend feuerten sie sich über die Köpfe der Menge hinweg mit knappen Zurufen an oder riefen einander Warnungen zu.
Gebannt presste mir meine Cousine Emilia die Hand zusammen und drückte sich an mich. Wir hatten schon fast vergessen, warum wir eigentlich aufgebrochen waren, obwohl uns der Gedanke an die unerledigte Aufgabe hin und wieder durchzuckte wie ein sanfter Stromstoß. Doch die Verlockung war zu groß, als dass wir ihr hätten widerstehen können. In der Ferne hüpfte die Flamme über den Hausdächern auf und nieder wie ein Gaukler, krümmte sich,
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