Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
huschte ein trauriges, verwirrtes Lächeln. Dann konnte ich sie nicht länger betrachten. Im Saal brach ein Tumult los. Die Schläfer, noch nicht ganz wach und mit vom Schlaf grässlich verzerrten Gesichtern,sprangen auf und warfen dabei ihre Sessel um. Sie suchten mich mit trüben Blicken. Schon rannten einige zu den Türen. »Ergreift ihn!«, rief ein massiger, älterer Mann mit vom Schlaf verquollenem Gesicht, »ergreift diesen Schurken!«
Alle setzten sich in Bewegung, fielen mit ihren noch nachgiebigen Körpern über die Möbel, rempelten sich an. Unter mir brodelte es wie in einem Kessel. Türen schlugen und Schritte waren zu hören. Ich rannte durch den dunklen Gang davon, verlor die Orientierung, stolperte über Teppichfalten und stieß gegen Ecken. Hinter mir schwoll der Lärm an, dicht und gischtend wie das Brausen einer nahenden Flutwelle.
In dem riesigen Hotel hallte es von den Geräuschen wider wie in einer leeren und unermesslich großen Kiste. Ich lief an mondhellen Fenstern vorüber, querte weitläufige Aufgänge, rannte durch Salons, auf deren Tischen noch die nicht ganz geleerten Gläser der Gäste standen. Hinter mir hörte ich den Lärm der Meute wie eine Woge, die schäumend über Kieselsteine strömt.
Die Geräusche, die sich in der schneckenartigen Anlage der Korridore brachen, ließen mich darauf schließen, dass die Verfolger schon dicht hinter mir waren. Vor mir tauchte eine große Glastür auf. Ich öffnete sie – und befand mich auf der Dachterrasse des Hotels, die vom weißlichen Licht des Mondes überpudert war. Um mich herum standen auf der Balustrade – vertraut, aber jetzt plötzlich viel größer – die Statuen der Männer und Frauen in den ungewöhnlichen Kleidern.
Irgendwo ganz in der Nähe im Korridor fiel ein Gegenstand aus Glas zu Boden und zerbrach. Dann waren wieder Stimmen zu hören, die näher kamen. Ich lief zur Brüstung. Unten auf der Straße sah ich die Linden, stark verkleinert, wieweiche, ebenmäßige Kugeln aus Laubwerk. Mit schlafwandlerischer Sicherheit kletterte ich auf die Balustrade und bemühte mich, nicht nach unten in den Abgrund der Straße zu schauen. Mit einer Hand hielt ich mich an einer Statue fest, die andere hob ich leicht in die Luft. Und dann stand ich ohne die geringste Bewegung, erstarrt in der feierlichen Pose eines Redners, vom Mond beleuchtet auf der Balustrade. Ich trug weiße Kleidung, so wie die Statuen, und bemühte mich, die gleiche steinerne Sicherheit auszustrahlen, die ich auf ihren Gesichtern gesehen hatte.
Hinter der Glastür, die auf den Balkon führte, glaubte ich Schatten wahrzunehmen; mir kam es so vor, als bemerkte ich Gesichter, die sich gegen die Scheibe drückten. Ich schloss die Augen: Ich hatte das Gefühl, dass der Balkon durch das unwirkliche, aschweiße Meer des Mondlichts trieb, dass die Dächer der umliegenden Häuser sich sacht wiegten. Dann hörte ich, wie sich Schritte durch den Korridor entfernten, die Stimmen verklangen im Inneren des Hauses. Ich blieb noch eine Weile stehen und drehte dann langsam den Kopf zur Statue neben mir. Im gespenstischen, blutleeren Mondlicht entdeckte ich das Gesicht meiner Cousine Emilia. Kein Zweifel, das war sie: Im Stein zeichneten sich deutlich ihre Züge ab, der Mund war zu dem ihr eigenen melancholischen, bitteren Lächeln verzogen, das Gesicht hatte die gleiche ovale Form eines Haselblattes wie das ihre. Und auch das Kleid war genauso wie das, das sie vorhin in dem Saal der Schläfer getragen hatte: lang und faltenreich, mit Ärmeln, die zum Ende hin weiter wurden.
Erschrocken trat ich einen Schritt zurück und stieß dabei gegen die Statue. Sie neigte sich langsam, der Sockel, auf demsie stand, knackte, und dann kippte die Steinskulptur meiner Cousine Emilia und stürzte langsam wie im Traum in den Abgrund der Straße. Es krachte. Ich war von der Balustrade gestiegen, hielt mich an ihr fest und beugte mich vor: Auf dem leeren Gehweg lagen inmitten von Mörtelstaub die Bruchstücke des steinernen Körpers meiner Cousine Emilia. Über ihnen kniete Muto, der Stadtverrückte, schluchzte und brabbelte unverständliche Worte.
Zitternd lief ich auf wackligen Beinen durch die Korridore. Hinter mir ging eine Tür auf. Im Nachthemd und in einen Schal gewickelt erschien mein Opa Simon. »Wo hast du dich denn herumgetrieben?«, fragte er vorwurfsvoll. »Du warst ganz schön lange verschwunden.«
***
Am nächsten Morgen gingen wir wieder nach Hause. Vor dem Hoteleingang war schon
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