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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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alles wieder in Ordnung gebracht worden: ein paar Mörtelbröckchen und Steinsplitter – die auch von dem Neubau gegenüber hätten stammen können –, das war alles. Bei der Verabschiedung war der Portier zurückhaltend. Das lag vielleicht an dem mickrigen Trinkgeld, das ihm mein Opa gegeben hatte, aber mir kam es so vor, als läge in seinem Gebaren auch etwas Vorwurfsvolles.
    Meine Cousine Emilia sah ich ein paar Tage lang nicht. Dann erfuhr ich, dass sie krank war. Mit ernsten Gesichtern und aufgeregt tuschelnd sprachen die Tanten über ihre Krankheit. So vergingen drei Monate. In den ersten Tagen des Winters durfte sie das Haus wieder verlassen. Sie war blass, ein bisschen schreckhaft, in ihrem Lachen lag eine nervöse Fröhlichkeit. Wir gingen an der Uferstraße spazieren – dieÄrzte hatten gesagt, dass ihr das gut tun würde – und sie wedelte die ganze Zeit mit den Händen, machte Bewegungen, als tanze sie, wiegte sich in einem Rhythmus, der mir bekannt vorkam.
    Plötzlich stieg sie auf die steinerne Brüstung des Kais. Sie schaute nach unten in die trüben Fluten des Flusses und lachte. Ich sprang auch auf die Brüstung und nahm ihre Hand.
    Sie drehte sich jäh um: In ihren Augen standen Verzweiflung und Schrecken. »Du willst mich runterstoßen«, rief sie aus. Mit ihren schmalen Händen schob sie mich fort.
    »Du willst mich runterstoßen«, rief das zierliche, abgemagerte Mädchen auf der Brüstung des Kais. Ich betrachtete sie; ihr Gesicht hatte den gleichen versteinerten, abwesenden Ausdruck wie die vom Mondlicht übergossenen Statuen. Ihre Augen waren unnatürlich weit aufgerissen: Sie sah nichts damit – oder aber sie sah etwas ganz anderes, das für alle anderen unsichtbar blieb.

F EUER
    An manchen Abenden der farbenfrohen und nicht enden wollenden Tage des Spätfrühlings kam die ganze Familie bei uns zusammen. Dann kreuzten sich unverhofft die verschlungenen und unergründlichen Wege entfernter, schon fast in Vergessenheit geratener Verwandter: Schwager, Onkel und Cousinen, rotwangig und benommen von der anregenden Abendluft, erhitzt vom Umherlaufen im stickigen Labyrinth der frühlingshaft geschäftigen Stadt. Sie waren zum Einkaufen oder zu Spaziergängen aufgebrochen oder kamen aus dem Kino zurück, und irgendwann gegen Ende ihrer langen Abwesenheit von zu Hause trafen alle fast gleichzeitig bei uns ein. Als bunt gefiederte Schar strömten sie lärmend zu den Türen herein, brachten ein fürchterliches Tohuwabohu in jedes Zimmer und machten den ohnehin schon gefährlich untergrabenen alltäglichen Ablauf unseres Lebens gänzlich zunichte. Die Haustürglocke klingelte ununterbrochen, Kinder, die aus verschiedenen Zimmern losgerannt waren, um aufzumachen, stießen zusammen, aufgeregte Stimmen waren zu hören und im Vorderflur wickelte sich das farbige Knäuel der soeben eingetroffenen Verwandten auseinander.
    Zwischen den geröteten und verschwitzten Gesichtern derTanten und Onkel, den hageren Gesichtern der Großmütter und dem vollen, von Fältchen und violetten Äderchen durchzogenen Gesicht Opa Simons, der die Gäste willkommen hieß, entdeckte ich das Gesicht meiner Cousine Emilia sofort. Wir begrüßten uns beiläufig und ohne einander anzusehen, um uns dann augenblicklich in den dunklen Fluren, im verschlungenen und von Geräuschen und Stimmen erfüllten Geflecht des Hauses zu verlieren.
    Aber wo wir uns auch versteckten, man fand uns immer schnell – kleinere Kinder sollten gehütet oder unlängst auswendig gelernte Gedichte vor Opa Simon aufgesagt werden, oder wir sollten bei den unverständlichen Spielen und Unternehmungen der Erwachsenen helfen. In den seltenen Augenblicken, in denen wir allein waren, führte ich meiner Cousine Emilia neue Briefmarken aus San Salvador und Honduras oder große goldene Käfer in kleinen Spiritusflaschen vor und zeigte ihr meine Bonbonverstecke, und wenn sie schließlich von klebrigem Saft verschmiert zwischen den dunklen Möbeln saß, versuchte ich sie zu küssen.
    Doch just dann pflegten die Tanten hereinzukommen und beunruhigt zu rufen: »Wo steckt ihr denn bloß?«
    An einem dieser Abende wurden wir losgeschickt, um Muskatnüsse für die Kekse zu besorgen, die die jüngste Tante gerade unter lebhafter Anteilnahme sämtlicher anderen weiblichen Verwandten buk. Wir erhielten zahlreiche komplizierte Anweisungen, in welche Richtung wir gehen sollten, welche Straßen zu durchqueren waren und wo genau sich der Laden befand, das einzige Geschäft, das

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