Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
erhellten Korridore lief, wurde mir klar, dass ich die Zimmernummer vergessen oder genau genommen nie gewusst hatte.
Ich versuchte, mich an irgendein charakteristisches Detail zu erinnern, doch vergebens. Die Türen sahen alle gleich aus und der Mond hinter den Fenstern verfremdete den Ort noch zusätzlich.
Trotzdem versuchte ich an der Stelle des Korridors, die mir noch am ehesten bekannt vorkam, ein paar Türen zu öffnen. Sie waren verschlossen. Dann probierte ich es mit der letzten in der Reihe. Die Klinke gab nach. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Sie führte auf einen kleinen und engen gewundenen Gang. Ich schlüpfte hinein und versank in der Dunkelheit. Mir schien, als hörte ich aus der Ferne, vom Ende des Ganges, Stimmen. Dann verstummten sie. Ich ging weiter den Gang entlang und drückte die Klinke der Tür am anderen Ende herunter.
Die Tür öffnete sich. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass ich auf einer Empore stand, unter der sich eine Art Theatersaal erstreckte. Rundherum brannten blass-gelbe Leuchter und brachten die Vergoldungen zum Glänzen. In den Sesseln saßen Hotelgäste und warteten auf irgendetwas. Ein paar von ihnen saßen offenbarschon länger hier, zumindest ließ die Schläfrigkeit, die sie überkommen hatte, darauf schließen. Sie waren tief in die großen Sessel aus rotem Samt gesunken und hatten die Kraft verloren, ihre Köpfe aufrecht zu halten, die wie weiche, welke Blüten auf die Lehnen gesunken waren. Obwohl ich nie davon gehört hatte, dass es in der Stadt so etwas wie ein Theater gab, war das hier doch ganz offensichtlich eines: Auf der einen Seite öffnete sich der Raum zu einer Art Bühne, die von einem großen verschnörkelten Rahmen aus vergoldetem Gips umgeben und mit einem schweren Samtvorhang verschlossen war.
Fast im selben Augenblick, in dem ich auf der niedrigen Empore erschien, wo sich sonst niemand befand, schlüpfte hinter dem Samtvorhang ein Mädchen hervor. Ich erkannte sie sofort: Es war meine Cousine Emilia, in einem langen weißen Kleid und mit einem Gesicht von durchscheinender Blässe. Sie bewegte sich langsam zu den Klängen kaum hörbarer Musik, die langen Schöße ihres Kleides schwangen hin und her. Ihre Augen waren ungewöhnlich weit aufgerissen: Sie schien nichts damit zu sehen – oder aber sie sah etwas ganz anderes, das für uns Übrige unsichtbar blieb. Ihre Bewegungen waren weich, ganz langsam und fließend; sie glitt dahin, wie Träumende dahingleiten.
Ihr Erscheinen brachte die Menschen in den Sesseln nicht aus der Ruhe. Als seien sie schon an sie gewöhnt, öffneten sie nur kurz die Augen, hoben verschlafen die Köpfe und ließen sie dann erneut zurücksinken. Doch mochte sie ihnen auch gleichgültig sein – meiner Cousine Emilia waren sie es nicht. Sie verstärkte ihre Bemühungen, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verrenkte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, rang flehentlich die Hände. Um sie herum blähte sichihr langes Kleid wie eine Wolke. Sie tanzte immer schneller, immer angestrengter; auf ihrem Gesicht malte sich ein leidender Ausdruck.
Im Zuschauerraum war kaum jemand mehr wach. Von unbezwingbarer Müdigkeit, von irgendeiner schweren, erdrückenden Mattigkeit erfasst schliefen die Zuschauer einer nach dem anderen ein, versanken in den Tiefen eines Traums, aus dem es kein Zurück mehr gab. Hin und wieder verdrehten sie unnatürlich die Köpfe und stießen kehlige Laute aus, als würden sie gerade ersticken, als rängen sie verzweifelt nach Luft. Ihre Arme hingen wie die Fühler großer Meereslebewesen herunter: Ständig glitten sie nach unten und streckten sich zum Fußboden, doch sobald sie ihn berührten, zuckten sie nervös zurück, als überraschte sie seine Festigkeit. Meine Cousine Emilia hatte sich inzwischen bis zur völligen Erschöpfung getanzt. Sie schwankte, ihre Knie gaben nach, sie quälte sich. Das Kleid schnürte sie ein und behinderte sie in den Bewegungen, das Haar klebte ihr an der Stirn. Sie atmete schwer, ihr Mund verzerrte sich, die Hände zitterten. Plötzlich stolperte sie, taumelte, fiel beinah hin. Ihre Arme hoben sich in flehender Gebärde.
Es war eine Qual, dies mitanzusehen. Ich stützte mich auf die Balustrade, beugte mich weit darüber hinaus und schrie: »Die schlafen doch! Diese Dummköpfe da unten schlafen alle! Lass sie doch, quäl dich nicht für sie!«
Es war schrecklich. Meine Cousine Emilia hielt kurz inne und zuckte zusammen, über ihr Gesicht
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