Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Der Mond leuchtete beinahe metallisch. Es kam uns so vor, als gingen wir über eine beleuchtete Theaterbühne, den Blicken unzähliger Zuschauer ausgesetzt. Aber es war niemand zu sehen. Vor uns hing wie ein großer und schwerer Vorhang der finstere Park.
»Seid ihr sicher, dass dort Einhörner sind?«, fragte meine Cousine Emilia.
»Es sollten welche da sein«, sagte Nestor. »Zu dieser Jahreszeit sind sie eigentlich immer da.«
»Ich würde gern wenigstens eines sehen«, sagte Emilia.
»Du wirst noch mehr sehen«, sagte Najden die Klette.
Seine Worte klangen wie eine Drohung. Ich betrachtete sie alle vier: Sie waren verkrampft, ein bisschen steif, unangenehmernst, mit bleichen und grau gewordenen Gesichtern – ob wegen des Mondes oder wegen etwas anderem, war unklar.
Der Kies auf dem Weg knirschte unter unseren Schritten. Zunächst war dies das einzige Geräusch, aber als wir tiefer in den Park eindrangen, merkten wir, dass wir nicht allein waren: Zwischen den Büschen, hinter den Bäumen, von den anderen Wegen her hörte man Schritte, knackten trockene Ästchen unter den Tritten. Durch den Park gingen noch andere Gruppen, man hörte Fetzen von leisen Gesprächen, erstickte Aufschreie, gedämpfte Zurufe.
»Mein Gott«, sagte meine Cousine Emilia, »seht nur!«
Auf einem Weg schleppte eine Gruppe Menschen ein weißes Tier durch das Grau des Halbschattens. Man konnte nicht erkennen, was es war; erst als es auf den Hauptweg hinausgezerrt wurde, leuchtete das starre, tote Auge des Tieres im Mondlicht auf. Emilia wollte zu ihnen gehen, aber Nestor deutete zur anderen Seite.
»Da hinüber«, sagte er. Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch.
Wir betraten den dunkleren Teil des Parks. Hin und wieder krächzten hoch oben in den Baumkronen Krähen, die aus dem Schlaf geschreckt worden waren. Überall herrschte Dunkelheit, nur in großer Entfernung sah man einen hell erleuchteten Teil des Weges oder einen Busch, dessen silberne Blätter zitterten. Durch die Finsternis hörte man Rufe, das Getrampel eiliger Schritte, nervöses Lachen.
»Glaubt ihr, das war ein Einhorn?«, fragte Emilia, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.
»Nein, sein Bruder«, sagte der kleine Miroslav.
Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass Pavle Kondratenko und Nestor Eisenstangen in den Händen trugen. Gleich darauf brach Najden ein Brett aus der Rückenlehne einer umgekippten Parkbank. Der kleine Miroslav zog einen Ast hinter sich her, an dem noch Blätter waren.
»Hier«, sagte Nestor zu Emilia, »du setzt dich auf diese Bank.«
»Ich fürchte mich«, sagte meine Cousine Emilia.
»Wir sind gleich hinter dir«, sagte Nestor.
»Genau«, bekräftigte der kleine Miroslav.
Wir kauerten uns einige Schritte von der Bank entfernt in das Nadelgehölz. Zwischen den Tannen war es dunkel, aber Emilia sahen wir ganz deutlich, wie sie am Rande der vom Mondschein beleuchteten Lichtung auf der Bank saß.
»Ich verstehe gar nichts«, sagte ich. »Denkt ihr nicht …«
»Sei still«, flüsterte Najden und drückte meine Hand. Am gegenüberliegenden Rand der Lichtung bewegte sich etwas. Es war ein seltsames Tier: halb Ziegenbock, halb Pferd. Das Horn auf der Stirn war nicht lang und wirkte nicht gefährlich. Das Tier machte kleine, hüpfende Schritte, als tanze es. Auf der hell erleuchteten Lichtung beschrieb es weite Halbkreise, und in der Mitte dieser Halbkreise stand die Bank, auf der meine Cousine Emilia saß. Es näherte sich der Bank vorsichtig und zögernd. In seinem Verhalten lag ein gewisser Widerwille, vielleicht Angst, gepaart mit unbezwinglichem Verlangen und Neugierde.
Das Tier war offensichtlich nervös, es zuckte häufig zusammen, wechselte abrupt die Richtung; es blieb stehen, schüttelte seinen Kopf, schnoberte in der Luft. Schließlich näherte es sich der Bank. Emilia saß ruhig da, dem Tier zugewandt. DasEinhorn legte den Kopf in Emilias Schoß. Es zitterte nicht mehr: Ruhig war es nun und zutraulich, seine Beine knickten allmählich ein, und schließlich kniete es zu ihren Füßen.
»Jetzt«, flüsterte Nestor. Wir rannten los. Im Getümmel hallte ein dumpfer Schlag, dann noch einer.
Wir standen alle über dem toten Tier. Es war ohne Zweifel ein Einhorn. Das Horn auf seiner Stirn war gerade, ein bisschen nach oben gerichtet, an der Spitze glatt und am Ansatz von zarten Härchen bedeckt. Emilia streichelte sein langes, weiches Fell.
»Los«, sagte Najden. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Wir wählten eine andere
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