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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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schon gedacht, du bist wieder eingeschlafen«, sagte der kleine Miroslav.
    »Quatsch keine Einhörner«, sagte ich. »Wir gehen also in den Park?«
    »Ja«, sagte Nestor. »Aber vorher musst du noch deine Cousine Emilia dazuholen.«
    »Wieso?«, fragte ich. »Was hat Emilia denn bei uns zu suchen?«
    »So ist es eben«, antwortete Nestor knapp. »Ohne sie können wir nichts fangen.«
    »Sie werden sie nicht gehen lassen«, sagte ich. »Es ist spät.«
    Es war wirklich spät. Die Stadt schlief. Übergossen von Mondlicht verwandelte sie sich in eine perlmuttschimmernde Illusion, in eine schwankende Erscheinung, wie sie sich in der flimmernden Luft über der Wüste zeigt, in eineversunkene Stadt aus Seefahrergeschichten. Das undurchdringliche grüne Licht umhüllte sie, wie gläserne Lava die kleinen Gegenstände aus Siedlungen umhüllt, die bei Vulkanausbrüchen zerstört worden sind. Das war nicht mehr unsere Stadt: Das war die Heimstätte irgendeiner untergegangenen Zivilisation, die sich den Augen verblüffter Forscher in den Dschungeln Yucatáns darbot. In den Gärten wuchs eine wahnsinnige, durch ihre dichten Schatten noch verdoppelte Flora, überschwemmte die Wege, kletterte an den Zäunen empor, bedeckte die Fassaden – glänzend, angeschwollen von dunklen Säften, strotzend und wild, als gedeihe sie auf sumpfigem Boden. Jedes Blatt war ein gewölbter Spiegel, in dessen Mitte verzerrt das Antlitz eines kleinen Mondes zitterte. Die Fassaden wirkten wie auf den grünen Hintergrund der Nacht gemalt. Die Häuser waren stumm, erblindet, ohne Lebenszeichen. In ihnen lagen bewegungslos die Schläfer wie Mumien in den Museen.
    Seltsamerweise brannte nur noch hinter dem Fenster meiner Cousine Emilia Licht. Kaum war das von mir geworfene Steinchen gegen das Glas geprallt, erschien sie schon am Fenster. Es schien, als hätte sie uns erwartet.
    »He«, sagte sie.
    »Was machst du?«, flüsterte ich.
    »Nichts weiter. Ich lese«, sagte sie. »Und ihr? Wohin seid ihr unterwegs?«
    »In den Park«, sagte Pavle Kondratenko. »Komm mit uns.«
    Sie zögerte einen Augenblick.
    »Wir jagen Einhörner«, sagte Pavle Kondratenko.
    Meiner Cousine Emilia entfuhr ein Schrei des Entzückens.»Wirklich? Echte Einhörner?« Es war offensichtlich, dass sie entschlossen war, mitzukommen.
    »Und was für welche!«, entgegnete düster Pavle Kondratenko, aber sie war schon in der Tiefe des Zimmers verschwunden.
    Wir standen unter dem Fenster und warteten darauf, dass sie herunterkam. Nestor und Pavle Kondratenko warfen einander einen kurzen Blick zu. Ich bemerkte, dass Nestor Pavle aufmunternd zunickte.
    »Hör mal«, sagte Pavle Kondratenko, »ist Emilia eigentlich Jungfrau?«
    Der kleine Miroslav lachte dünn und schrill auf und verstummte dann jäh, als Nestor ihn ansah.
    »Sei nicht so ordinär«, sagte ich.
    »Ja oder nein?«, fragte Pavle Kondratenko trocken.
    »Hört mal zu«, sagte ich, »wenn ihr Dummheiten vorhabt, dann lasst mich aus dem Spiel. Ihr hättet Emilia auch allein holen können. Ich gehe.«
    »Warte«, sagte Nestor. »Das ist wichtig.«
    »Was ist denn daran so wichtig?«, fragte ich.
    »Na das«, sagte Nestor, »ob sie Jungfrau ist.«
    »Hört mal«, sagte ich, »könnt ihr vielleicht …«
    »Was bist du denn so empfindlich?«, fragte Najden die Klette. »Du bist doch nicht etwa in sie verliebt?«
    Es wurde still.
    »Er ist verliebt«, sagte der kleine Miroslav herausfordernd.
    »Bin ich nicht«, sagte ich und schluckte Speichel herunter. »Ihr seid blöd.«
    »Ist sie eine Jungfrau?«, fragte Pavle Kondratenko noch einmal.
    »Wenn sie nämlich keine ist, dann wird das nichts«, meinte Najden die Klette. »Keine Jungfrau – keine Einhörner.«
    In der Haustür erschien Emilia in einem weißen Kleid. Sie hatte etwas Mühe mit dem Schloss.
    »Also«, fragte Pavle Kondratenko leise, »ja oder nein?«
    »Weiß nicht«, murmelte ich. »Ich nehme an, ja.«
    Emilia war nun bei uns.
    »Gehen wir wirklich in den Park?«, flüsterte sie. Ihr Kleid war aus indischer Seide: Über ihr goss der Mond seine Blüten, sein Perlmutt, seine Spiegelpailletten aus. Alle schauten sie verlegen an.
    »Gehen wir?«, fragte Emilia. »Wenn wir hier bleiben, wecken wir die Tanten auf. Besser, wir hauen ab.«
    Wir liefen auf der dunklen Straßenseite. Die Häuser gaben uns mit ihren Schatten Deckung und boten uns so Sicherheit und Schutz. Vor dem Park jedoch mussten wir einen kleinen Platz überqueren, dessen Pflaster Funken schlug wie ein Amboss:

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