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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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und schienen auf etwas zu warten. Ihre Mäuler hinterließen kleine feuchte Spuren auf der Fensterscheibe.
    »Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen«, zischte Emilia, kauerte sich im Sessel zusammen und verbarg ihren Kopf zwischen ihren Knien. Ich kniete neben ihr nieder. Sie weinte.
    In diesem Augenblick öffnete jemand in unserem Rücken die Tür.
    »Das ist absolut unglaublich, werter Kollege«, sagte eine vertraute Stimme. »Und dennoch, es wird in so vielen Schriftstücken erwähnt.«
    Es war unser Tierkundelehrer Karaman in Begleitung des Zoodirektors.
    »Ja«, sagte der Zoodirektor nachdenklich, »es gibt Beweise, aber wer würde uns denn glauben. Dieses Tier …«
    »Es wird doch in so vielen Texten erwähnt«, sagte der Tierkundelehrer, »nehmen wir zum Beispiel Ktesias von Knidos oder Strabon oder Plinius oder Isidor von Sevilla oder sogar Leonardo da Vinci. Ganz zu schweigen von Kosmas Indikopleustes, von Marco Polo und dem arabischen Reisenden Abu Sa’id. Übrigens …«
    Sie hatten sich an den Tisch direkt neben der Tür gesetzt, ohne uns zu bemerken, und drehten uns den Rücken zu. Ich kniete noch immer neben dem Sessel, auf dem meine Cousine Emilia saß. Wir verharrten so, hielten den Atem an. Emilia wischte sich lautlos die Tränen ab.
    »Da«, sagte der Lehrer Karaman und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. »Das sagt das berühmte Buch ›Physiologus‹ dazu: ›Wie man es fängt. Man setzt eine Jungfrau in das Revier des Tieres, es springt in ihren Schoß, und sie umfängt es warm und bringt es in den Königspalast‹. Da hören Sie es.«
    »Ja«, sagte der Zoodirektor Dudevski. »Diese Vorgehensweise scheint wirklich zu funktionieren. Obwohl sie völlig unsinnig ist. Haben Sie, werter Kollege, die jungen Mädchen bemerkt, die um diese späte Stunde allein auf den Bänken sitzen? Wer würde denn meinen …« Und hier beugte er sich zum Ohr des Tierkundelehrers, um ihm etwas zuzuflüstern, was er ihm aus Gründen des Anstands nicht laut sagen mochte.
    Doch dieser geheime und unanständige Gedanke konnte nicht mehr zu Ende geführt werden. Die Tür zum Lesekiosk wurde aufgerissen und auf der Schwelle erschien ein Zoowärter in einer blauen Uniform mit goldenen Knöpfen. »Ein Telefonanruf für Sie, Herr Direktor«, rief er atemlos aus. »Von der Insel Mauritius! Rasch!«
    Die Zoologen sprangen von ihren Stühlen auf. »Der Vogel Dodo!«, rief der Zoodirektor Dudevski. »Man hat ihn gefunden! Wir werden die Ersten sein, die ihn haben!« Und er zog unseren Lehrer am Arm hinter sich her. Vom Luftzug aufgeschreckt löste sich der Nachtfalter über unseren Köpfen von der Zimmerdecke und begann umherzufliegen, wobei er sich panisch bewegende Schatten im Zimmer warf. Von draußen hörte man einen Löwen brüllen.
    Kaum waren sie verschwunden, erschien in der offenen Tür Najden die Klette und starrte uns mit dümmlicher Miene an. Sein Mund stand offen, als sähe er sämtliche Fabeltiere auf einmal, wie sie sich zum Festmahl um unsere halb nackten Körper versammelten.
    In diesem Augenblick stummer Verblüffung, in dem die Zeit stillzustehen schien, standen meine Cousine Emilia und ich auf, ordneten unsere Kleider und gingen an Najden vorbeiin die durchsichtige Nacht hinaus. Der Nachtfalter flog hinter uns her. Die Stille, die im Raum zurückblieb, war beinahe mit Händen greifbar.
    »Was habt ihr denn mit den beiden Fossilien da gemacht?«, fragte Pavle Kondratenko.
    »Wir haben über die Darwinsche Theorie diskutiert«, sagte ich. »Über Galapagos. Hast du schon mal was von Galapagos gehört?«
    »Und wir haben schon gedacht«, begann der kleine Miroslav, führte den Satz jedoch nicht zu Ende.
    »Was habt ihr gedacht?«, fragte ich herausfordernd.
    »Nichts«, sagte Nestor, »nichts haben wir gedacht. Wir haben nur die Gelegenheit verpasst. Die Einhörner haben sich in Luft aufgelöst.«
    Und tatsächlich war kein Einhorn mehr zu sehen. Vergeblich streiften wir über die Lichtungen, versanken in den Schatten der Bäume, tauchten an den gepflasterten Ufern kleiner Seen wieder auf. Vergeblich saß Emilia auf den Bänken, während wir versteckt in den Büschen lauerten, vergeblich beobachteten wir die Säume der Wäldchen: Es rührte sich nichts. Der Mond war bereits hinter den Bergen im Westen untergegangen, aber es war trotzdem hell.
    Im Park begann es zu dämmern. Die Nacht wurde immer lichter, ihre Luft wurde ärmer, beraubt der Dickflüssigkeit der nächtlichen Säfte, der Schwere der

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