Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich - Gesamtedition (German Edition)
Mutter das Kind vollstopft. Von Lenas Shirt kann man lesen wie von einer Landkarte. Da kann meine Mutter die Flecken mit dem Schwamm noch so gut weg reiben. Die Restspuren der Schokolade, der Kekse und des Eis sind immer noch erkennbar. Ich könnte die Kekse einfach mitnehmen, lege sie dann aber doch auf einen der hohen Schränke und schiebe sie weit nach hinten, so dass auch meine Mutter die Packung nicht sofort entdecken wird.
„Ich bin spätestens um halb Zwölf wieder da.“ Dann verabschiede ich mich und freue mich auf zwei Stunden kinderlose Zeit. Im Auto entferne ich Conni kommt in die Schule aus dem CD Player und krame nach einer vernünftigen Alternative. Zwischen Krokohits für Kids , Rolfs Kinderfrühling, Rolfs Sommerfest und 1,2,3 im Sauseschritt mit Detlev Jöcker taucht immer wieder Saras zweitbeste Freundin nach Rüdiger auf: Conni lernt Radfahren, Conni fährt Ski, Conni und das neue Baby und, Saras neustes Highlight, Conni und das tanzende Pony für Kinder ab Sechs. Das Schulkind Conni hat ihre alberne, rote Schleife gegen ein rotes Haargummi eingetauscht, trägt dafür aber immer noch den gleich roten Ringelpulli. Wem wollen die das eigentlich verkaufen? Selbst H+M hat jedes Jahr eine neue Kollektion und kein Mensch kauft seinem Kind einen Pullover in direkt fünf Größen. Wenn ich die Kinder nicht irgendwann von dem Trip runter bringe, wird mich diese Quarkstimme noch bis zum Abitur der Kinder quälen. Der Verlag hat sich nämlich gewinnbringend in die Entwicklung der Kinder eingebracht. Nach Kindergarten- und Grundschulconni gibt es neuerdings die vorpubertäre Conni, für Kinder ab zehn - Conni und die Mädchenbande . Ich frage mich, was danach kommt, vieleicht Conni raucht oder Conni und das erste Mal oder Conni nimmt Drogen ?
Endlich finde ich eine Musik CD, die BRAVO Hits 2006, nicht gerade das Neuste, aber besser als Jimmy Breuer auf Einslive. Ich drehe auf volle Lautstärke, um meinen Hausfrauenmantel abzustreifen. „Ich muss durch den Monsum, hinter die Welt, ans Ende der Zeit bis kein Regen mehr fällt.“ Ich stehe irgendwie auf Bill Kaulitz. So seltsam ist das gar nicht, wenn man bedenkt, dass ich mit Zwölf unsterblich in Boy George verliebt war. Der lief ja nicht immer mit diesem Doppelkinn und Glatze rum.
Früher sah der auch ganz lecker aus und ich stand immer schon auf den androgynen Typ. Exzessiv klebten damals alle Boy George Fotos die ich kriegen konnte über meiner Teddybär-Tapete. Ich fand, dass seine mystisch blickenden, blauen Augen das Schönste ist, was es auf Erden gäbe. Wenn freitags der Zeitungsjunge klingelte, um meinen Bruder seine abonnierte BRAVO zuzustellen, winselte ich um Culture Club Artikel. Mein Bruder folterte mich, indem er mich tagelang Betteln und kleine Gefälligkeiten ausführen ließ, damit ich mir die ersehnte Autogrammkarte verdiente. Dann behauptete der höhnisch, Boy George wäre doch sowieso schwul. Ich war tief getroffen. Niemals, redete ich mir ein.
Boy George wurde irgendwann von George Michael abgelöst. Was sehr praktisch war, musste ich doch in den Schulheften und meinem beigen Lederschlampermäppchen lediglich das „Boy“ von „I love Boy George“ überkrickeln. Der andere George hatte sein Coming Out Gott sei Dank erst viel später, als ich bereits über die nötige Reife verfügte, diese Ohrfeige zu verkraften.
Ein bisschen eigennützig war es schon, als ich meiner Nichte Sina letztes Weihnachten die Karten für das Tokio Hotel Konzert in der Köpi Arena schenkte.
„Ich fahr dich auch hin und komm als Begleitperson mit rein, ist doch klar. Du bist ja erst Dreizehn.“
„Ähm, Tante Heidi. Ich steh doch gar nicht auf Tokio Hotel.“
„Nicht? Wieso? Alle Mädchen in deinem Alter stehen auf Tokio Hotel.“
„Nicht wirklich. Dieser Bill ist doch total schwul.“
Und so kam es, dass ich die Karten schweren Herzens bei ebay versteigerte und mich stattdessen zwischen hysterischen Mädchen in der Lanxess Arena, bei der Lightversion eines Popstars, Justin Bieber, wiederfand. Justin Bieber, die optische Reinkarnation von Heintje mit Mittelscheitel, kann nicht mal schön singen. Aber woher soll das Kind auch seinen guten Geschmack haben? Man muss sich nur meine spießige Schwägerin Petra anschauen, dann weiß man Bescheid.
Im Parkhaus kurve ich Parkdeck um Parkdeck nach oben, bis ich einen freien Platz in Ausgangnähe entdecke. „Parkdeck 3, G501“ versuche ich mir bewusst einzuprägen. Ich
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