Meine Frau will einen Garten
Der Mann läuft in aller Welt die Hochhäuser ab. Im Februar 2008 siegte Dold zum dritten Mal hintereinander beim Rennen auf das Empire State Building in New York, 86 Stockwerke, 1576 Stufen …
Ihr »genau wie ich« soll mir nur signalisieren, dass ich vom Treppensteigen keine Ahnung habe, weil es ihr Schicksal ist in unserem gartenlosen Haushalt im dritten Stock.
»Im Ernst«, sagt sie und liest weiter: »Seine Waden sind so muskulös, dass er maßgeschneiderte Strümpfe braucht - Kompressionsstrümpfe im Übrigen, die ihn
noch schneller machen sollen.« Und dann wird Mr. Wade in diesem Text auch noch so zitiert: »Treppenlaufen zu trainieren macht Spaß, oben hat man eine schöne Aussicht, und es bringt einen knackigen Hintern.« Diese Zeitung bestelle ich wegen boulevardesker Tendenzen ab.
Pia überlegt laut: »Also. Ich bringe morgens die Kinder in die Schule, 88 Stufen, dann komme ich am frühen Nachmittag nach Hause, 88 Stufen, dann bringe ich den Müll runter, 88 Stufen, hole Anton aus der Mittagsbetreuung ab und komme nach Hause, 88 Stufen, dann gehe ich einkaufen, 88 Stufen, hole Max vom Kindergarten ab und bringe ihn nach oben, 88 Stufen, dann bringe ich Julia zur Klavierlehrerin und Anton zum Fußball, während ich einen müden Max runtertrage, 88 Stufen, dann packe ich alle wieder ein, und wir gehen endlich wieder nach oben, 88 Stufen. Und dann kommst du nach Hause.«
Im Prinzip würde ich jetzt gerne sagen: »Du hast mir eben das vollkommene Argument für unsere Wohnung auf Lebenszeit geliefert: einen perfekten Hintern.« Aber ich sage nichts.
Mir entgeht nicht, dass Pia leidet. Achtmal 88 Stufen täglich, nur weil ich eine Hausallergie habe und keinen Sinn für das Wunder der Ebenerdigkeit. Sie hat ein Haus verdient. Wahrscheinlich werde ich ein Haus bauen und an den Stadtrand ziehen und depressiv werden, nur damit meine Frau nicht eines Tages mit Thomas Dold durchbrennt, der dann der Nutznießer ihres
perfekten, an der Ismaninger Straße gestählten Hinterns wäre.
In England, das weiß ich aus dem Fernsehen, werden inzwischen wieder Treppenhäuser gebaut, die wie früher, als Treppenhäuser noch repräsentative Aufgaben hatten, über breite Stufen und eine ansprechende Architektur verfügen. Man will die Leute davon abhalten, den Lift zu benutzen, weil England ein Problem mit zu dicken Menschen hat. Das Treppenhaus soll zu einer Art nationalem Fitness-Programm aufgerüstet werden.
Auch dort, wo ich arbeite, in der Redaktion, die in einem Hochhaus untergebracht ist, treffe ich um die Mittagszeit herum immer wieder verschwitzte, keuchende Journalisten, die sich das Fitness-Studio sparen, um vom 25. Stock in die im ersten Stock gelegene Kantine und zurück über die Treppe zu sprinten.
Davon könnte ich Pia erzählen. Aber das würde nur bestätigen, was sie ohnehin über einige meiner Kollegen denkt. Und was die Briten und ihre Schlankmachtreppen angeht: Pia hat, im Gegensatz zu mir, keine pathologische Vorliebe für Hamburger oder für Fish and Chips.
5. Kapitel, in welchem Pendler an einem utopischen Horizont auftauchen, die täglich von New York (wo sie arbeiten) nach London (wo sie wohnen) und zurück fahren wollen. Besichtigt werden außerdem: ein Kellerschaukelfernseher, ein Vertikal-Pool und ein Vorort namens Vaterstetten, der einerseits in der Nähe von München und somit in Hauptbahnhofsnähe liegt, andererseits aber auch ein geheimes Terrorcamp sein könnte.
Das Schlimmste an unserer Baugruppe ist das Defizit an einem Bau bei gleichzeitigem Überschuss an einer Gruppe.
Gruppen, Horden, Banden, Parteien, Vereine, Straßennachbarschaften, Stadtviertelgeselligkeiten, Stadtidentitäten, Landsmannschaften, Nationalitäten, Europa, die Erde, die Milchstraße, das Sonnensystem: All das ist mir nicht generell unsympathisch. Es ist nur so, dass ich als Student drei Jahre in einer WG gewohnt habe. Das war teils nett, teils die Hölle. Ich lebte damals mit zwei Mädchen zusammen in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Die eine hieß Carla. Die andere Moni oder so ähnlich. Ich erinnere mich daran, dass Moni nie einkaufen und putzen wollte. Interessantes Mädchen. Hat später einen Seifenfabrikantensohn geheiratet.
Mein Zimmer war das Einhalb-Zimmer. Auch die Küche war so klein, dass darin genau zwei Leute auf
winzigen Klappstühlchen sitzen konnten. Das waren immer Carla und die Seifige. Sie tuschelten miteinander in der Küche. Sobald ich dazukam, herrschte Schweigen. Ich fand das
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