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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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dessen, seine Hoffnungslosigkeit. Zeigt es doch, wie wenig Mühe es kostet, sich eine Lüge anzuerziehen und an sie zu glauben, wenn man nur die allgemeine Tendenz erkennt, dass sie volkstümlich ist. Glaubt er seiner Lüge
noch immer
? Ach, wahrscheinlich nicht; er hat keine weitere Verwendung für sie. Sie war nur eine kurze Episode; er räumte ihr den Augenblick ein, der ihr zukam, dann eilte er zum ernsten Geschäft seines Lebens zurück.
    Und was für eine armselige, kümmerliche Lüge ist es, die lehrt, dass Unabhängigkeit des Handelns und Meinens an einem Menschen gewürdigt, bewundert, geehrt, belohnt wird. Wenn ein Mann aus einer politischen Partei austritt, wird er behandelt, als sei er Eigentum der Partei – als sei er ihr Leibeigener, was die meisten Parteimänner ja tatsächlich auch sind – und habe sich selbst gestohlen, sich davongemacht mit etwas, was ihm nicht gehört.Und er wird verleumdet, verspottet, verachtet, wird der Nachrede und dem Abscheu der Öffentlichkeit preisgegeben. Sein Ruf wird erbarmungslos gemordet; kein noch so gemeines Mittel gescheut, um sein Eigentum und sein Geschäft zu schädigen.
    Der Prediger, der seine Stimme um des Gewissens willen abgibt, läuft Gefahr zu verhungern. Und es geschieht ihm recht; hat er doch eine Unwahrheit gelehrt – dass die Menschen Unabhängigkeit des Denkens und Handelns achten und ehren.
    Mr. Beecher könnte ein
Verbrechen
zur Last gelegt werden, und seine ganze Gefolgschaft würde sich wie ein Mann erheben und ihm bis zum bitteren Ende beistehen; aber wer ist so armselig, sein Freund zu sein, wenn er beschuldigt wird, bei der Stimmabgabe seinem Gewissen gefolgt zu sein? Nehmen Sie den Herausgeber, der dessen beschuldigt wird – nehmen Sie – nehmen Sie, wen Sie wollen.
    All das Gerede über Toleranz, wo und wann auch immer, ist schlichtweg eine sanfte Lüge. Es gibt sie nicht. Sie wohnt im Herzen keines Menschen; doch unbewusst und durch moosbewachsene ererbte Gewohnheit sabbert und schlabbert sie von jedermanns Lippen. Intoleranz heißt: alles für das eigene Selbst und nichts für den anderen. Haupttriebfeder der Menschennatur ist genau dies – Selbstsucht.
    Um mich kurzzufassen, will ich die anderen Lügen überspringen. Sie zu untersuchen würde nichts beweisen, außer dass der Mensch ist, was er ist – liebevoll zu den Seinen, geliebt von den Seinen – seiner Familie, seinen Freunden –, ansonsten aber der betriebsame, geschäftige, triviale Feind seiner Rasse – der sein bisschen Tag versäumt, sein bisschen Schmutz absondert, sich Gott befiehlt und dann hinausgeht in die Finsternis, um nie wieder zurückzukehren und keine Botschaften mehr zu senden –, selbstsüchtig noch im Tod.
    Mittwoch, 24. Januar 1906
    Ich glaube, es ist deutlich, dass dieser alte Artikel vor ungefähr zweiundzwanzig Jahren geschrieben wurde und dass er etwa drei oder vier Monate auf James G. Blaines Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen und auf den Sieg Grover Clevelands, des demokratischen Kandidaten, folgte – eine zeitweilige Befreiung von der Herrschaft der Republikanischen Partei, die eine Generation angedauert hatte. Ich hatte mich daran gewöhnt, häufiger Republikaner als Demokraten zu wählen, war aber nie Republikaner und nie Demokrat. In der Gemeinde wurde ich als Republikaner angesehen, doch selbst hatte ich mich nie dafür gehalten. Schon 1865 oder 66 machte ich diese merkwürdige Erfahrung: Während ich mich bis dahin als Republikaner betrachtet hatte, wurde ich durch die Weisheit eines fanatischen Republikaners zur Nichtparteizugehörigkeit bekehrt. Es war ein Mann, der später US-Senator wurde und auf dessen Charakter kein Makel lastet, von dem
ich
wüsste, außer dass er der Vater des heutigen William R. Hearst war und somit Großvater der Revolverblätter – der Katastrophe aller Katastrophen.
    Hearst kam aus Missouri; ich kam aus Missouri. Er war ein großer, hagerer, praktischer, vernünftiger, ungebildeter Mann von etwa fünfzig Jahren. Ich war kleiner und besser informiert – jedenfalls bildete ich mir das ein. Eines Tages im Lick House in San Francisco sagte er:
    »Ich bin Republikaner; ich denke, ich werde immer Republikaner bleiben. Das ist meine Absicht, und ich bin kein wetterwendischer Mensch. Aber schauen Sie sich die Zustände an. Die Republikanische Partei erzielt Jahr für Jahr größere Erfolge, erringt Sieg um Sieg, bis sie glaubt, die politische Macht der Vereinigten Staaten sei ihr Eigentum und es sei eine Art

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